„Wer hat uns verraten? Geschichtsvergessene Sozialdemokraten!“ So war es zu lesen auf einem Transparent der Demonstration gegen ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis in Thüringen am 9. November auf dem Erfurter Domplatz. Der Spruch hat allerdings auch eine eigene Geschichte, an die man in diesen Tagen offensichtlich wieder erinnern muss.
Ursprünglich diente er gleichermaßen sowjetorientierten Kommunisten und Nationalsozialisten zur Diffamierung der SPD in den politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik. Die groben Anfeindungen von links und rechts waren der Preis, den die SPD zahlen musste für ihr vorbehaltloses Eintreten für die junge deutsche Demokratie, für freie Parlamente, für Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Wir alle wissen, wohin die fanatisierten ideologischen Grabenkämpfe am Ende geführt haben!
Der Slogan wurde auch in den Jahren der deutschen Teilung in Ost und West je nach propagandistischem Bedarf instrumentalisiert. Im Rückblick auf den gescheiterten kommunistischen Umsturzversuch in den Jahren 1918/1919 war die Etikettierung der SPD als „Arbeiterverräter“ durchgängiges Motiv im Geschichtsunterricht der DDR. Aber auch in Westdeutschland bemühten konservative Kreise die rhetorische Figur sattsam etwa gegen die Ostpolitik des „Vaterlandsverräters“ Willy Brandt. Heute wissen wir, dass diese Politik entscheidenden Anteil an der deutschen Wiedervereinigung hatte.
Wie oft musste ich selbst mich in den vergangenen Jahren von Vertretern der Partei „Die Linke“ als „Verräter“ bezeichnen lassen, sei es wegen außen- oder sozialpolitischer Entscheidungen im Bundestag. Ich will mich darüber nicht beklagen, Zuspitzungen und Provokationen gehören in der politischen Auseinandersetzung dazu. Aber zur differenzierten und sachorientierten Diskussion tragen sie naturgemäß nichts bei.
Nun verraten wir also angeblich die friedliche Revolution von 1989. Dabei ging es doch der Bürgerbewegung vor 25 Jahren zu allererst um Demokratie und freie Wahlen. Eine rot-rot-grüne Koalition ist aber bei der Landtagswahl ebenso mit der denkbar knappen parlamentarischen Mehrheit von einer Stimme legitimiert worden wie ein Bündnis von CDU und SPD. Wer nun gegen die eine oder die andere Koalition demonstriert, der demonstriert damit zwangsläufig auch gegen das Ergebnis freier Wahlen. Das kann man tun. Aber ob man sich dabei ausgerechnet auf den Herbst 1989 berufen sollte?
Die SPD hat nach der Bundestagswahl auf ihrem Leipziger Parteitag beschlossen, künftig vor Wahlen keine Koalitionen mehr auszuschließen außer mit Rechtsextremisten. Dementsprechend hat auch die Thüringer SPD die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen von den Sondierungsgesprächen nach der Wahl und den darin zum Ausdruck kommenden inhaltlichen Gemeinsamkeiten abhängig gemacht. Genau so hat sie es auch umgesetzt. Wo ist da Verrat?
Mir ist durchaus bewusst, dass die Partei „Die Linke“ in besonderer historischer Verantwortung steht. Deshalb werden wir im Falle einer gemeinsamen Koalition sehr genau darauf achten, wie sie mit dieser Verantwortung umgeht. Eine verlässliche Finanzierung der Gedenk- und Erinnerungsstätten sowie der weiteren Aufarbeitung der DDR-Diktatur ist deshalb für uns unabdingbar.
Wahr ist aber auch, dass die Linkspartei zur politischen Normalität in Ostdeutschland gehört. Es ist nicht gerade Ausdruck demokratischer Souveränität, diese Partei dauerhaft in die moralische Schmuddelecke zu stellen und von jeder Regierungsverantwortung auszuschließen. Das wäre nicht nur feige und undemokratisch, sondern auch ein Affront gegenüber 265.428 Thüringer Wählern, die die Partei bei der Landtagswahl gewählt haben.
Wahlen können zu Regierungswechseln führen, auch wenn das für die Thüringer CDU eine gänzlich neue Erfahrung ist. Ihr Agieren in der zurückliegenden Koalition war nun auch nicht immer geeignet, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, um es zurückhaltend zu formulieren. Erinnert sei nur an den obskuren Ausspruch des Fraktionsvorsitzenden, in der Thüringer Bildungspolitik gehe es zu wie zu Margot Honeckers Zeiten. So etwas ist natürlich nicht gerade eine herzliche Aufforderung zur weiteren Zusammenarbeit. Auch angesichts der inneren Zerstrittenheit in der Union erscheint die Behauptung, eine schwarz-rote Koalition sei stabiler, eher als Euphemismus.
Entscheidend für die Thüringer SPD ist allein, ob es der neuen Regierung gelingt, in den nächsten fünf Jahren die nötigen Investitionen in Bildung und die soziale wie ökologische Infrastruktur mit nachhaltiger Haushaltspolitik und einer Verwaltungsmodernisierung zu verbinden. Daran wollen wir uns gerne messen lassen. Denn wir wissen, dass Macht in einer Demokratie immer nur auf Zeit verliehen wird. Das ist eine historische Errungenschaft, für die nicht wenige Mitglieder der SPD im 20. Jahrhundert unter Einsatz von Freiheit und Leben gestritten haben.
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