Ich hatte mir fest vorgenommen, Carsten Schneider nicht zu ­mögen. Ich hatte, wie ich fand, auch gute Gründe dafür:

  • Carsten Schneider kam 1998 in den Bundestag, damals war er 22 Jahre alt und jüngster Bundestagsabgeordneter der Geschichte. Er hat also ­genau die Karriere gemacht, von der ich früher geträumt hatte. In den Neunzigerjahren, in meiner Schulzeit in Ulm, war ich Salonsozialist und SPD-Mitglied (trat dann allerdings aus, weil mir Gerhard Schröder zu rechts war).
  • Carsten Schneider ist heute haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Sprecher des Seeheimer Kreises, in dem sich die Parteirechte organisiert. Er redet die ganze Zeit vom Sparen?– er ist wohl das Ideal­exemplar eines pragmatischen Sozialdemokraten, der alle ­linken Werte der Partei verraten hat
  • Carsten Schneider will sich schon um fünf Uhr am Nachmittag mit mir treffen. Wahrscheinlich will er zeitig nach Hause und wird bis ­dahin nur Apfelschorle trinken, damit er mir im Alkoholrausch nicht aus Versehen erzählt, dass ihm Politik egal ist und es ihm nur um das Geld oder die Karriere oder so geht.

Dass mein Bild von Carsten Schneider nicht ganz stimmen kann, merke ich zunächst daran, dass ich ihn nicht erkenne. Noch nicht einmal, als er direkt vor mir steht, in der Kneipe Double B in Erfurt, seinem Stammlokal. Erfurt bildet mit Weimar Schneiders Wahlkreis. Er trägt einen verwaschenen Kapuzenpullover und verhält sich nicht, wie ich es von jedem Politiker erwarte: Er klopft mir nicht jovial auf die ­Schulter, schielt nicht nach den Fotografen, stellt sich nicht in den Mittelpunkt, sondern ist immer darauf bedacht, niemandem im Weg zu stehen. Schneider bietet mir mit leiser Stimme das Du an und sagt, dass ­zufällig Freunde von der SPD da seien, ob wir uns dazusetzen wollen?


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