Statt weiter an Symptomen herumzudoktern, muss sich Angela Merkel für ein ganz neues Haftungssystem in der EU einsetzen
Europa steht am Scheideweg: Die Finanzmarktkrise ist im Gewand einer Staatsfinanzierungskrise nach Euroland zurückgekehrt. Damit erhält Europa die Quittung dafür, dass der Integrationsprozess nicht auf die Haushaltsund Finanzpolitik ausgedehnt wurde. Der Krise ist die EU bisher nur mit kurzfristigen Antworten begegnet – ob mit dem Euro-Rettungsschirm oder dem Ankaufprogramm für Staatsanleihen der EZB. Was fehlt, ist eine dauerhafte, nachhaltige Lösung. Vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble sind aus Angst vor dem Koalitionspartner und den Wählern in kurzfristigem Denken gefangen. Deshalb finden die konzeptionellen Überlegungen in Brüssel mittlerweile ohne Deutschland statt.
Mein Vorschlag lautet, einen langfristigen Mechanismus als „programmbedingte Verbundhaftung“ aufzubauen. Dafür ist die No-Bailout-Klausel in den europäischen Verträgen durch eine Regelung zu ersetzen, die eine Verbundhaftung und zugleich ein europäisches Konsolidierungsprogramm mit einer Schuldenbremse festschreibt.
Zunächst: Kein Euro-Staat geht je in die Insolvenz. Ein Staat kann immer Einnahmen generieren. Diese Tatsache wird glaubwürdig durch eine Verbundhaftung „alle für einen“ festgeschrieben. Dadurch entsteht ein Haftungsverbund für die Staatsanleihen der Euro-Staaten, zeitlich unbegrenzt, aber unter klaren Bedingungen – sonst entfällt die Haftung. Dies geschieht durch Bürgschaften für jede neue Anleihe zu einem angemessenen Zinssatz. Denn der Verbund garantiert keine Gewinne für Investoren, die kein Risiko eingehen wollen. Zugleich müssen sich die Euro-Staaten auf einen Fahrplan zur Rückführung ihrer Defizite verständigen, einen Plan, der verbindlicher ist als jeder Stabilitätspakt. Die Einhaltung muss zentral kontrolliert werden. Strafzahlungen sind zu vermeiden. Eine sinnvolle Sanktion dagegen wäre, dass ein Staat automatisch seine Steuereinnahmen erhöhen muss, wenn er der Konsolidierungspflicht nicht nachkommt.
Natürlich sind neue Krisen dennoch nicht ausgeschlossen, etwa bei gezielten Angriffen raffgieriger Finanzmarkt-Akteure. Im Falle solch kurzfristiger Spitzen tritt ein Ausgleichsmechanismus ein: Zunächst greift der existierende Rettungsschirm. Reichen dessen Mittel nicht, tritt eine neu zu gründende Stabilitätsagentur ein. Diese kann das Geld auf dem Markt aufnehmen, etwa mit Hilfe einer Euro-Anleihe, die an dieser Stelle und nur hier – Sinn haben würde, oder durch den Aufkauf der Anleihen.
Treten trotz des gesamteuropäischen Sanierungspakets bei einem Mitgliedsstaat Liquiditätsprobleme auf, kann er auf den Ausgleichsmechanismus zugreifen, solange er sich an das Konsolidierungsprogramm hält. Für die Kosten haften die Gläubiger nach klaren Regeln mit – schließlich bekommen sie dafür auch ihre Zinszahlungen. Ein „Haircut“ auf die Primärforderung wäre falsch, denn kein Investor wäre für etwa fünf Prozent Rendite bereit, den Kapitalerhalt zu riskieren. Es bleibt also nur der „Zinscut“. Muss ein Staat die Verbundhaftung und/oder den Ausgleichsmechanismus in Anspruch nehmen, wird der Zins für alle Anleihen dieses Staates auf zum Beispiel drei oder vier Prozent gesenkt.
Eine Verbundhaftung verlangt zwingend, dass der Verbund Kontrollkompetenzen erhält. Denn das europäische Konsolidierungsprogramm definiert nur Rahmenregelungen, die durch die souveränen Mitgliedsstaaten auszufüllen sind. In der Konsequenz bedeutet das: Haushaltspläne der Mitgliedsstaaten müssen über das Europäische Semester hinaus vorgestellt und im Zweifel präventiv angepasst werden, wenn sie bestimmte Bedingungen – beispielsweise beim strukturellen Defizit – nicht erfüllen. Das ist zwar ein klarer Einschnitt in die Budgethoheit der nationalen Parlamente, aber nur bei den Rahmendaten, nicht bei der politischen Ausgestaltung. Die Rahmenvorgaben durch Europa werden jedoch umso geringer, je besser konsolidiert wird. Bewegt sich das nationale Budget wieder im vereinbarten Rahmen, gibt es keinen europäischen Einfluss mehr.
Zudem ist unerlässlich, dass jeder Staat eine hinreichende Einnahmebasis hat. Dazu muss der Steuersenkungswettbewerb in der EU beendet werden. Es braucht einheitliche Bemessungsgrößen und klare Mindeststandards. Da Konsolidierung aber nur mit wirtschaftlichem Wachstum gelingen kann, ist auch ein neuer europäischer Wachstumsansatz notwendig, der die Ungleichgewichte in der Leistungsbilanz abbaut: Hat ein Staat Defizite in der wirtschaftlichen Entwicklung, muss er entwickelt, nicht abgewickelt werden. Dies geschieht schon durch die europäischen Strukturfonds, jedoch brauchen wir mehr nachhaltige Förderung mit mehr Geld. Eine europaweite Wachstumsstrategie muss ein Umverteilungsmechanismus sein: mehr Bildung, mehr Infrastruktur, mehr Investitionen, mehr Innovationen. Das Finanzierungsinstrument wäre eine europaweite Finanztransaktionsteuer, deren Aufkommen der EU zustünde – mit festgeschriebenem Verwendungszweck. So würde der Finanzsektor nicht nur an den Kosten möglicher künftiger Krisen, sondern auch stärker an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben beteiligt. Durch den Rückfluss der Finanzmittel in wirtschaftliche Entwicklung würde der Finanzsektor übrigens auch profitieren.
Letztlich braucht es einen institutionellen Rahmen, um diesen finanzpolitischen Integrationsschritt zu verwirklichen. Weder die Kommission noch der Rat sind hierfür geeignete Institutionen. Wir brauchen einen Quasi-Stabilitätsrat, beraten von der EZB und den europäischen Finanzaufsichtsbehörden. Dieser legt nach demokratisch vereinbarten Regeln Kennziffern für alle Haushalte fest und überwacht deren Einhaltung. Verstöße berichtet er einer politisch verantwortlichen Ebene, zum Beispiel dem Rat und dem Parlament. Sanktionen werden aber automatisch verhängt. Diese Institution kann auch die Überbrückungsfinanzierung leisten, die ein Staat in Schieflage braucht, wenn er die Verbundhaftung in Anspruch nimmt. Zum Ausgleich finanzieller Spitzen könnten auch hier Mittel aus dem Aufkommen der Finanztransaktionsteuer dienen.
Mein Vorschlag folgt dem Grundsatz: „In guten Zeiten jeder selbst, in Krisenzeiten alle für einen, aber auch einer für alle.“ Die Bundesregierung hat keine eigene Idee und duckt sich weg. Mit fatalen Folgen: Die höheren Zinsen sind auch in Deutschland schon angekommen.
(Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 14. Dezember 2010.)
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