Unter der Überschrift „Eis lecken und andere Reflexe“ zitiert Martin Debes in seinem „Zwischenruf“ einen Post, den ich nach dem Neonazi-Überfall auf die Maikundgebung in Weimar (die TA berichtete) im Netz veröffentlicht habe. Noch unter dem Eindruck der gerade erlebten Aggressivität und Gewaltbereitschaft fielen mir die zahlreichen, scheinbar „sorglosen“ Spaziergänger in der Altstadt auf, die das sonnige Wetter genossen. Vielleicht war ich sogar ein wenig neidisch. Gleichwohl erinnerte mich der Gegensatz doch sehr an die Zeit des „Biedermeier“ im 19. Jahrhundert, als sich weite Teile des Bürgertums bewusst aus der politischen Auseinandersetzung in das private Refugium zurückzogen.

Nun mag es sein, dass die Formulierung im Eifer des Gefechts zu pauschal und zugespitzt geraten ist. Mit entsprechendem Interpretationswillen kann man darin sogar, wie der Autor, „Wählerbeschimpfung“ erblicken. Das sollte einem echten „Biedermeierberufspolitiker“, wie mir Herr Debes gleichsam attestiert, keinesfalls passieren.

Wie auch immer, die Sorge um die demokratische Kultur im Land bleibt. Wenn sich immer mehr Menschen aus den öffentlichen Diskursen zurückziehen, gewinnen die Feinde der Demokratie durch Gewalt und martialisches Auftreten eine Deutungshoheit, die ihnen nicht zusteht. Um es klar zu sagen: Es geht mir dabei nicht um staatlich verordnetes Demonstrieren a la DDR und auch nicht primär um „links“ oder „rechts“, sondern in erster Linie um eine selbstbewusste und wache Bürgergesellschaft. Was passieren kann, wenn sie zu lange weg schaut, lässt sich gerade in Weimar gründlich studieren. Die Vorfälle am 1. Mai bestärken mich jedenfalls im Engagement für eine starke demokratische Öffentlichkeit, auch und insbesondere in der Auseinandersetzung mit den „Lehren aus Weimar“. Der noch junge Verein „Weimarer Republik e. V.“ bietet hierfür zum Beispiel eine ideale, parteiübergreifende Plattform.

Für Journalisten und Politiker gehören schnelle Pointen und provokante Thesen heute zum Tagesgeschäft und beide schießen dabei immer mal wieder über das Ziel hinaus. Es bleibt aber unabdingbar, dass die demokratische Mehrheit selbstbewusst bleibt und ihre Straßen und Plätze nicht den Ideologen von gestern und vorgestern überlässt. Denn eine offene Gesellschaft muss ihre Grundlagen am Ende immer selbst verteidigen.

Darin, lieber Martin Debes, sind wir uns sicher einig. Wir können das auch gerne bei einem Eis vertiefen! Ich lade Sie herzlich ein.

(c) Thüringer Allgemeine

In Weimar sprengten Neonazis die 1. Mai-Kundgebung. SPD-Fraktionsvize Carsten Schneider erlebte die Attacken am eigenen Leib und berichtet von seinem Erlebnis.

Karin Nink: Wie haben Sie den Angriff der Nazis bei der 1. Mai-Kundgebung in Weimar erlebt? Was war Ihr erster Gedanke?

Carsten Schneider: Ich wollte gerade mit meiner Rede beginnen, als sich ein Parolen skandierender Block Neonazis auf den Marktplatz zu bewegte. Erst konnte ich sie überhaupt nicht zuordnen und war konsterniert. Als auf ihren Schildern und Sprüchen Neonaziparolen erkennbar wurden, war mir klar, dass sie unsere Veranstaltung sprengen wollen. Ich lief ihnen entgegen und sagte ihnen, sie sollen verschwinden, was sie aber nicht taten, sondern in Richtung Mikrofon marschierten. Als ich das Mikro greifen wollte, kam es zu einer Rangelei, ich wurde von drei Männern abgedrängt und sie bemächtigten sich des Mikros, um ihre widerwärtigen Hassparolen über den Marktplatz zu verbreiten.

Nink: Ist das eine neue Qualität rechter Gewalt, die sich am 1. Mai in Weimar zeigte?

Schneider: In der straffen Organisation und der Auswahl eines ungeschützten Ziels, eines friedlichen Familienfestes mitten in Weimar, auf jeden Fall.

Link zum vollständigen Artikel:

„Alle reden von Arbeit, dabei wäre den meisten Menschen schon mit Geld geholfen.“ Mit dieser kabarettistischen Einlage brachte der großartige Dieter Hildebrandt sein Publikum zum Lachen. Was dem Künstler zur Pointe diente, wird allerdings seit geraumer Zeit als ernsthafte sozialpolitische Idee debattiert: das sogenannte „bedingungslose Grundeinkommen“.

Anstelle der bisherigen Leistungen aus den unterschiedlichen Sozialversicherungen und sozialen Hilfesystemen soll es demnach für alle Bürger eine staatliche Einkommensgarantie geben, unabhängig von konkreter Bedürftigkeit oder Arbeitsbereitschaft. 1.000 Euro für die alleinerziehende Mutter in Neukölln ebenso wie für den kinderlosen Bankdirektor in Schwäbisch Gmünd. Gleiches Recht für alle, pauschale Auszahlung, keine Einzelfallprüfungen mehr, keine Antragsformulare, das Ende der paternalistischen Sozialstaatsbürokratie.

So jedenfalls lauten die Verheißungen. Dabei wird – wenn man so will – nur ein engagierter Paternalismus gegen einen gleichgültigen ausgetauscht. Denn das „bedingungslose Grundeinkommen“ ist naturgemäß blind gegenüber individuellen Bedarfslagen und den mannigfachen Schicksalsschlägen des Lebens. Der Staat zahlt die monatliche Einheitsprämie an seine Bürger und kauft sich damit frei von weitergehenden Einstandspflichten. Doch selbst die leidenschaftlichsten Befürworter eines unbedingten Grundeinkommens müssen eingestehen, dass die gesamtwirtschaftlichen Effekte einer so gigantischen Verschiebung des Volkseinkommens insbesondere im Hinblick auf den Arbeitsmarkt und die allgemeine Preisentwicklung nicht absehbar sind. Ehe wir aber auf dem Altar der romantischen Freiheit einen staatlichen und ökonomischen Kollaps riskieren, sollten wir uns besser um einfache Antragsverfahren und transparente Anspruchsprüfungen im geltenden Sozialsystem bemühen.

Das dürfte zumindest der alleinerziehenden Mutter in Neukölln tatsächlich weiterhelfen, während der Bankdirektor wohl auch künftig keine Transferleistung benötigt.

(c) vorwärts

„Die Stadt Erfurt hat im Jahr 2014 Fördermittel in Höhe von 2,14 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt für städtebauliche Projekte erhalten, Weimar rund 910.000 Euro“, erklärt der SPD-Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider. Davon seien beispielsweise rund 260.000 Euro in Maßnahmen im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ in der Magdeburger Allee geflossen; in Weimars historische Altstadt seien rund 212.000 Euro aus dem Programm „Denkmalschutz Ost“ investiert worden.

Im vergangenen Jahr wurde die Städtebauförderung auf 650 Millionen Euro aufgestockt. Zusätzlich standen 50 Millionen Euro für das Programm „Nationale Projekte des Städtebaus“ bereit. „Auch in diesem Jahr stehen 700 Millionen Euro zur Verfügung, womit sicherlich auch Baumaßnahmen in beiden Städten gefördert werden“, ist Schneider zuversichtlich. Er selbst setzt sich seit längerem für die Aufnahme des Erfurter Herrenbergs als Fördergebiet in das Programm „Soziale Stadt“ ein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Als diese Koalition vor eineinhalb Jahren ihre Arbeit aufgenommen hat, haben wir uns natürlich auch intensiv um die Finanzpolitik gekümmert. Wir haben festgelegt, dass wir so schnell wie möglich Haushalte aufstellen wollen, die ohne Neuverschuldung auskommen, und dass wir zusätzlich 23 Milliarden Euro – diese Zahl wurde damals genannt – zur Entlastung der Länderhaushalte und im Bildungsbereich investieren wollen. Darin waren auch 5 Milliarden Euro für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur enthalten.

Nun, eineinhalb Jahre später, haben wir bereits für das Jahr 2014 im Vollzug einen ausgeglichenen Haushalt erreicht, sogar mit Überschüssen. Voriges Jahr haben wir auch für 2015 einen Haushalt ohne Neuverschuldung beschlossen. Dabei sind wir von einem geringeren Wachstum ausgegangen, als es nun der Fall ist. Der Bundeswirtschaftsminister hat gestern die Wachstumsprognose für 2015 und 2016 auf 1,8 Prozent hochgesetzt. Dieser Wert ist ein bisschen höher als der unseres Potenzialwachstums. Das zeigt: Wir profitieren von externen Faktoren wie dem niedrigen Ölpreis, dem niedrigen Euro-Kurs, den niedrigen Zinsen, aber auch davon – das ist der Schlüssel –, dass wir eine sehr konsequente, solide Finanzpolitik machen, auf die sich die Leute verlassen können. Dass sie sich darauf verlassen können, bringt uns Spielräume.

Jetzt stellt sich die Frage: Was machen wir mit den finanziellen Spielräumen, die wir durch die gute Wirtschaftsleistung – ich sage: auch durch die gestiegene Binnennachfrage, die ihre Ursache in der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns hat, weil die Leute wieder mehr Geld verdienen und Steuern zahlen können – zur Verfügung haben?

(Beifall bei der SPD)

Was machen wir mit diesen zusätzlichen Mitteln? Ich will auf meine Reden hier im Haus zum Haushalt 2015 verweisen. Ich habe bereits damals auf die bestehende Investitionslücke sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich hingewiesen. Es gab darüber einen Dissens.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Genau!)

Ich kann mich an gegenteilige Veröffentlichungen aus dem Bundesfinanzministerium erinnern. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand – ich weiß nicht, woher die Überschrift kommt; aber irgendwie muss sie ja Belang haben –, dass die CDU an einer Investitionslücke zweifelt. Ich halte diese Einschätzung für falsch und glaube auch nicht, dass sie gerechtfertigt ist; aber zumindest entsteht ein entsprechender Eindruck. Wir als Sozialdemokraten sagen jedenfalls klar: Wenn wir zukünftig unseren Wohlstand sichern wollen, dann müssen wir sowohl in die private als auch in die öffentliche Infrastruktur investieren. Denn nur wenn wir heute investieren, wird es uns auch in der Zukunft, in fünf oder zehn Jahren, gelingen, bei Produkten und Wettbewerbsfähigkeit an der Spitze der Welt zu sein und dadurch letztendlich gut bezahlte Arbeitsplätze zu sichern.

(Beifall bei der SPD)

So können wir die privaten Investitionen durch Rahmenbedingungen steuern.

Die öffentlichen Investitionen haben wir aber direkt in der Hand. Das ist unsere Verantwortung. Deswegen legt die Regierung heute hier einen Nachtragshaushalt vor – er ist natürlich auch unter Beteiligung des Parlaments aufgestellt worden –, über den wir in den nächsten Wochen beraten und entscheiden werden. Er sieht zwei entscheidende Maßnahmen vor.

Erstens. Die Bundesinvestitionen in die digitale Infrastruktur und die Verkehrsinfrastruktur werden in den nächsten drei Jahren um 10 Milliarden Euro erhöht, zusätzlich zu allem, was wir bisher schon vereinbart haben. Das ist eine klare Richtung, für mehr Substanzerhalt, für mehr Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Deswegen begrüße ich diesen Vorschlag.

Der zweite Punkt betrifft die kommunale Infrastruktur. Bundesminister Schäuble hat darauf hingewiesen: Der Großteil der Investitionen in Deutschland wird von den Kommunen getätigt. In den vergangenen Jahren – da gebe ich Herrn Kollegen Bartsch recht; er zitierte aus Studien des Städte- und Gemeindebundes und von Wirtschaftsforschern – gab es Kommunen, die investiert haben, und manche, die deutlich zu wenig investiert haben, insbesondere diejenigen, die unter enormen Soziallasten leiden. Wir greifen jetzt diesen Kommunen unter die Arme, indem wir ihnen zusätzlich 3,5 Milliarden Euro für Investitionen zur Verfügung stellen. Ich hoffe und erwarte, dass die Länder das nicht nur kofinanzieren, sondern dieses Geld auch an die Städte und Gemeinden weitergeben. Denn auch unter dem Gesichtspunkt – Kollege Bartsch hat auf die Flüchtlingsströme hingewiesen –, dass wir in den nächsten Jahren große Anstrengungen unternehmen müssen, um Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren – Integration ist fast genauso wichtig –, muss die Leistungsbereitschaft der Kommunen gewährleistet sein. Wenn, wie in meiner Heimatstadt, erst einmal Turnhallen zur Unterbringung genutzt werden müssen, dann sinkt irgendwann auch die Bereitschaft der Bevölkerung – sie ist noch in großem Maße vorhanden –, die Flüchtlinge mit offenen Armen aufzunehmen. Das müssen wir verhindern. Es ist eine nationale Aufgabe, dass sie mit offenen Armen in der Gesellschaft aufgenommen werden und dass die Kommunen nicht überfordert werden. Deswegen ist dieses Investitionsprogramm der richtige Weg.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zum Abschluss möchte ich noch etwas zu den privaten Investitionen sagen. Diese machen insbesondere bei den Unternehmensinvestitionen den absoluten Hauptteil aus. Der Anteil des Staats liegt, bezogen auf die privaten Unternehmensinvestitionen, bei 10 bis 20 Prozent. Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, gehen diese Investitionen in den letzten Jahren zurück. Das ist ein alarmierendes Zeichen; denn wenn Unternehmen heute zu wenig in die Zukunftsfähigkeit von Produkten investieren, dann fehlt ihnen in zehn Jahren auf dem Weltmarkt, auf dem wir derzeit noch in vielen Bereichen führend sind, die Fähigkeit, Produkte zu guten Preisen zu verkaufen und unseren Wohlstand zu sichern.

Man stellt sich dann die Frage: Woran liegt das eigentlich? Dann muss man sich nur einmal die Gewinnausschüttungen anschauen, gerade bei den großen DAX-Konzernen. Wir haben hier ein Rekordhoch bei den Dividendenausschüttungen zu verzeichnen. Wenn bei den Unternehmen nur noch der Börsenkurs im Mittelpunkt steht, wenn sie möglichst kurzfristig ihren Kurswert steigern, indem sie hohe Dividendenausschüttungen quasi als Alternative zu den mangelnden Zinseinnahmen generieren, dann ist das eine gefährliche Situation. Es kann nicht sein, dass wir eine satte Gesellschaft werden, die auf Dauer nur noch davon lebt, dass die Unternehmen Dividenden ausschütten, und dass Unternehmenserben davon leben, dass die Unternehmen, die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut worden sind, Gewinne ausschütten, ohne in die Zukunft zu investieren. Das ist eine große Herausforderung. Alles, was wir als Politik tun können, was zum Beispiel die Rahmengesetzgebung bei der Energie, aber auch bei den Steuern betrifft, muss darauf gerichtet sein, dass wir Unternehmen in die Lage versetzen, wieder mehr in die Zukunft zu investieren, als sie es derzeit machen. Das ist im Übrigen auch eine Antwort auf die europäische Frage, was wir gegen zu geringe Unternehmensinvestitionen tun können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege.

Carsten Schneider (Erfurt) (SPD):

Herr Präsident, ich komme zum Schluss.

Wir beraten in den nächsten Wochen über diesen Nachtragshaushalt. Auch der Verteilungsschlüssel wird – Kollege Bartsch hat darauf hingewiesen – Bestandteil dieser Beratungen sein und ist im Zusammenhang mit der zukünftigen Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern zu sehen; der Minister hat darauf hingewiesen. Auf diese Debatte freue ich mich sehr.

Danke sehr.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Zur heutigen Verabschiedung des Kleinanlegerschutzgesetzes erklärt der SPD-Fraktionsvize im Deutschen Bundestag Carsten Schneider:

„Mit dem heute beschlossenen Kleinanlegerschutzgesetz sind Anleger künftig wirk­samer vor unseriösen und intransparenten Geldanlagen auf dem sogenannten Grauen Kapitalmarkt geschützt. Gleichzeitig konnte erreicht werden, dass der Schutz nicht auf Kosten von Bürgerbeteiligungsprojekten und Gemeinschaftsfinanzierungsmodellen gehen, die in den zurückliegenden Monaten enorm verunsichert waren. So bleiben soziale und gemeinnützige Projekte von der Prospektpflicht befreit, wenn sie höchstens 2,5 Millionen Euro einwerben. Ursprünglich sollte die Freigrenze nur bei 1 Million Euro liegen, konnte aber im parlamentarischen Verfahren deutlich erhöht werden. Dies ist auch für Thüringer Initiativen mit einer sozialen, kulturellen und ökologischen Ausrichtung eine gute Nachricht, zum Beispiel für gemeinschaftliche Wohnprojekte in Erfurt und Weimar.“

Carsten Schneider sucht gemeinsam mit der gemeinnützigen Austauschorganisation AFS Interkulturelle Begegnungen e. V. Gastfamilien in Erfurt und Weimar, die ihren Alltag ab September für ein ganzes oder halbes Jahr mit einer Austauschschülerin oder einem Austauschschüler teilen möchten.

„Wer sein Zuhause mit einem Jugendlichen aus einem anderen Land teilt, setzt nicht nur ein klares Zeichen für eine Willkommenskultur in Deutschland, sondern gewinnt auch einen ganz persönlichen Einblick in andere Lebensweisen und Kulturen. Dies kann eine große Bereicherung und einmalige Erfahrung für beide Seiten sein“, unterstützt Schneider die Idee des Gastfamilienprogramms.

Ein Gastkind aufnehmen können Familien, Alleinerziehende, kinderlose Paare und Alleinstehende, die aufgeschlossen und bereit sind, sich einem jungen Menschen und seiner Kultur zu öffnen. Die Gastfamilien werden von ASF-Mitarbeitern vor Ort auf den Aufenthalt vorbereitet und anschließend begleitet. Gesucht sind auch Willkommens- und Übergangsfamilien für einen Zeitraum von sechs bis acht Wochen.

Weitere Informationen und Erfahrungsberichte sind im Internet unter www.afs.de/gastfamilie zu finden.

Seit einem halben Jahrzehnt hält uns die Eurokrise in Atem. Noch immer ist der Zusammenhalt der Eurozone bedroht. Seit dem Ausbruch der Finanzmarkt- und später der Refinanzierungskrise einiger Staaten wurde Zeit gekauft – durch die Rettungsschirme und die Zentralbanken. Aber diese Zeit ist nicht ausreichend genutzt worden. Die Europäische Zentralbank (EZB) spielt noch immer die Rolle der „Feuerwehr“, gleichzeitig nimmt die Bereitschaft für neue Rettungspakete in Ländern wie Deutschland ab. Noch hält der über Jahrzehnte gewachsene pro-europäische Grundkonsens den Euro zusammen. Jedoch: Wie lange kann das noch gut gehen?

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, und kaum etwas bestimmt das derzeitige politische Bewusstsein so stark wie die Arbeitslosenquote und die wirtschaftliche Entwicklung. Aus Gründen der europäischen Vergleichbarkeit nennen wir hier die Zahlen von Eurostat: Die Arbeitslosenquote beträgt in der Eurozone durchschnittlich etwa 11 Prozent. Dies entspricht der Arbeitslosenquote in Deutschland vor zehn Jahren, als die deutsche Sozialdemokratie in einem existenziellen Kraftakt notwendige Reformen auf den Weg brachte. Heute liegt die Arbeitslosigkeit in Deutschland bei unter fünf Prozent. In Spanien beträgt sie 22 Prozent, in Griechenland sogar 25 Prozent. Was das gesellschaftlich bedeutet, wissen wir in Deutschland nur zu gut – und zwar aus Ostdeutschland in der Nachwendezeit.

Unser Werben für etwas mehr Verständnis und Geduld unter den Mitgliedern der Eurozone darf nicht als Versuch missverstanden werden, das Prinzip der Eigenverantwortung außer Kraft zu setzen. Immer noch gilt, dass die Probleme eines jeden Landes der Eurozone in erster Linie hausgemacht sind und deshalb in erster Linie vor Ort gelöst werden müssen. Eine Alternative dazu gibt es nicht.

Allerdings müssen wir eine wichtige Einschränkung beachten, die trotz ihrer Dramatik leider noch immer kein Allgemeingut ist: Die klassische makroökonomische Aufgabenverteilung im Euro-Raum sieht vor, dass alle Länder ihre eigenen Hausaufgaben zu machen und sich insbesondere an die Defizitregeln zu halten haben. Falls dies in der Summe dazu führen sollte, dass die gesamtwirtschaftliche Aktivität zu stark abgebremst wird, schreitet die Geldpolitik ein und senkt die Zinsen. Damit sichert sie das Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent und stabilisiert gleichzeitig die Gesamtnachfrage.

In normalen Zeiten funktioniert diese Aufgabenverteilung zwischen Geld- und Fiskalpolitik. In einer Währungsunion, die keine Fiskalunion ist, stößt sie in Krisenzeiten jedoch an ihre Grenzen. Wirklich dramatisch wird das Problem dann, wenn die Nullzinsgrenze erreicht ist – eine Situation, die von den Architekten des Euro schlechterdings nicht voraussehbar war. Bereits im September 2014 hat die EZB die Zinsen auf null Prozent gesenkt. Zinsen wesentlich unterhalb der Nullgrenze sind technisch nicht möglich, weil die Sparer sich dann entschließen würden, Bargeld zu horten.

Wenn nun an der Nullzinsgrenze die Inflationserwartungen weiter fallen – und wir sprechen hier nicht über die aktuell gesunkenen Ölpreise, sondern über eine fallende Inflationserwartung im Fünfjahreshorizont –, dann ist die klassische Architektur der Eurozone überfordert.

In Deutschland haben wir in dieser Situation reflexartig dreimal „Nein“ gesagt: Erstens zu einer unkonventionellen Geldpolitik an der Nullzinsschranke, zweitens zu einer Aufweichung der europäischen Defizitregeln an der Nullzinsgrenze und drittens zur Schaffung eines makroökonomisch relevanten europäischen Investitionsfonds.

Doch das war falsch. Die geringe Gesamtnachfrage und eine zu niedrige Inflationsrate haben in Japan viel Schaden angerichtet?– allerdings ohne dabei Japan oder den Yen in ihrer Existenz zu bedrohen. Die noch junge Eurozone, wo der gesellschaftliche und politische Zusammenhalt nicht so stark ist, würde jedoch an einem „japanischen Jahrzehnt“ zerbrechen.

Das liegt besonders daran, dass es in einem Umfeld mit Nullinflation sehr lange dauert, bis die Krisenländer über die Anpassung der relativen Preise und Löhne wieder wettbewerbsfähig werden. Ebenso schwierig ist es, unter der Bedingung von Nullinflation die Überschuldung und die leider noch immer nicht ausgestandenen Probleme der Banken zu bewältigen. Deshalb besteht auf der ökonomischen Ebene die akute Gefahr einer verlorenen Generation, während auf der politischen Ebene eine dramatische Radikalisierung droht, deren Vorboten wir in einigen Ländern der Eurozone schon heute beobachten – und die in letzter Konsequenz den Euro und das europäische Projekt zerstören würden.

Deshalb müssen wir deutlich strategischer als in den vergangen Monaten darüber nachdenken, wo in Zeiten der Nullzinspolitik Deutschlands und Europas Interessen liegen – und dementsprechend handeln. Es ist wichtig, auch in dieser schwierigen Phase die Glaubwürdigkeit der europäischen Defizitregeln zu bewahren, und trotzdem die Perspektive eines fiskalischen Investitionsschubs zu entwickeln. Daher müssen wir den bisher unseriös gehebelten europäischen Investitionsfonds mit Beiträgen aus den nationalen Haushalten soweit aufstocken, dass ein substanzieller makroökonomischer Impuls möglich ist bei gleichzeitiger strenger Qualitätskontrolle der zu genehmigenden Projekte. Darüber hinaus müssen wir darüber entscheiden, welche sinnvollen Zukunftsinvestitionen in Deutschland in den kommenden Jahren zusätzlich getätigt werden könnten. Das würde, im Sinne einer Win-win-Situation, Deutschland voranbringen und gleichzeitig die Anpassungs-prozesse in der Eurozone erleichtern.

Diese fiskalischen Maßnahmen wären – zusammen mit den in einigen Ländern weiterhin dringend erforderlichen wachstumsorientierten Strukturreformen – dazu geeignet, die Europäische Zentralbank an der Nullzinsgrenze zu entlasten. Genau dies hatte übrigens Mario Draghi bereits in seiner Rede im amerikanischen Jackson Hole im Sommer 2014 völlig zu Recht gefordert. Deshalb ist die öffentliche Diskussion in Deutschland?– insbesondere in konservativen Kreisen – fadenscheinig. Wir sehen mit Sorge, wie ein wichtiger Teil der Politik einerseits genau weiß, dass die EZB keine überzeugenden Alternativen zur Erreichung ihres Inflationsziels hat, dieselben Politiker andererseits aber die quantitative Lockerung mit Freude kritisieren, nur weil das in ihren Wahlkreisen unglaublich populär ist. So wird das Vertrauen in die Durchsetzungsfähigkeit der EZB unterminiert. Angesichts der tatsächlich auch vorhandenen Gefahren einer Politik der quantitativen Lockerung – vor allem die Gefahr der Blasenbildung – würden wachstumsorientierte Reformen und ein ernstzunehmend dimensionierter europäischer fiskalischer Impuls dazu beitragen, das erforderliche Ausmaß und die Dauer der quantitativen Lockerung zu begrenzen.

Die Bewältigung der unmittelbaren Herausforderung an der Nullzinsgrenze ist allerdings keine hinreichende Bedingung für den langfristigen Erfolg der Eurozone, sondern die kurzfristig notwendige Bedingung für ihr Überleben.

Um den Euro langfristig erfolgreich zu machen, brauchen wir einen weiteren Integrationsschub. Wir müssen die Bankenunion vollenden und einen Versicherungsmechanismus zur Abfederung von länderspezifischen Schocks einführen, zum Beispiel in Form einer europäischen Arbeitslosenver­sicherung. Außerdem ist es notwendig, europäische öffentliche Güter auch europäisch zu finanzieren, etwa den humanitären Umgang mit Flüchtlingen. Und schließlich müssen wir die Krisenmechanismen europäisieren, um den dysfunktionalen Antagonismus zwischen Athen und Berlin durch ordentliche, legitimierte Entscheidungen einer Euroregierung zu ersetzen, die selbstverständlich durch ein Europarlament kontrolliert werden müsste. Damit wären – wie von der Glienicker Gruppe dargelegt – auch die Voraussetzungen für eine geordnete Insolvenz von Staaten in der Eurozone geschaffen, die im Vertrag von Maastricht nur gefordert, aber nicht hinreichend operationalisiert wurde.

Vor diesen Veränderungen scheuen manche noch zurück, weil schwierige Vertragsveränderungen erforderlich wären. Doch es ist keine Staatskunst, nur auf Sicht zu fahren und auf Zeit zu spielen. Übersehen wird dabei, dass die unzureichende institutionelle Architektur der heutigen Eurozone anti-europäische Kräfte stärken kann.

Ein guter und tragfähiger politischer Kompromiss zur Lösung der Probleme in der Eurozone würde bedeuten, dass alle Länder der Eurozone davon profitieren. Erschwert wurde dies in den vergangenen Jahren dadurch, dass die politische Auseinandersetzung auf einen eindimensionalen Verteilungskonflikt zwischen Krisenländern und finanzstarken Ländern verengt wurde. Europapolitik wurde als ein Tauziehen inszeniert, mit der allseits weit verbreiteten Sorge, über den Tisch gezogen zu werden. Europapolitik lebt aber davon, dass sie kein Nullsummenspiel ist, bei dem man über den Tisch zieht oder gezogen wird, sondern dass sie den zu verteilenden Kuchen für alle vergrößert.

Damit das gelingt, braucht die europäische Politik mehrere Verhandlungsdimensionen – genauso wie durch internationalen Handel nur dann Wohlstand geschaffen wird, wenn es mehrere Güter gibt. So paradox es auch klingen mag: Um die Eurokrise erfolgreich zu überwinden, müssen wir alle einen Schritt zurücktreten und den Blick für die gemeinsamen Interessen jenseits der Eurokrise weiten – in der Nachbarschaftspolitik, im Zusammenspiel mit den Vereinigten Staaten und China, in der Entwicklungspolitik, in der Einwanderungspolitik und in der Energiepolitik. Anschließend müssen wir versuchen, über diese Politikdimensionen hinweg nach tragfähigen Kompromissen zu suchen, die die Eurozone und Europa insgesamt auch institutionell weiterentwickeln. Die Zeit drängt.

(c) Berliner Republik