Deutschland ist vereint, doch die kulturelle Entfremdung ist zu spüren: Politik muss gegensteuern. Möglichkeiten hat sie. Sogar von der DDR kann sie eine Idee übernehmen.

Viele Menschen in Deutschland schütteln den Kopf über das Brexit-Chaos in Großbritannien. Sie fragen: Wie kann sich ein Land so sehr selber schaden? Aber vielleicht sollten wir nicht hochmütig sein. Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg hat ein gutes Viertel der Wähler zwei besonders radikale Landesparteien der AfD gewählt, deren Spitzenleute nachweislich in rechtsextremistischen Kreisen verkehrten. Wenn sie ihre politischen Vorstellungen durchsetzen könnten, würde Deutschland sich in eine illiberale Demokratie verwandeln und wirtschaftlich abstürzen. So weit ist es nicht. Dennoch werden diese Wahlergebnisse negative Folgen haben

Schon heute investieren Unternehmen lieber in anderen Regionen, schon heute finden viele ostdeutsche Betriebe keine Mitarbeiter mehr, klagen die Universitäten über fehlende Bewerbungen aus dem Ausland, bleiben Arztpraxen unbesetzt. Je stärker die AfD ist, desto weniger attraktiv wird der Osten für Fachkräfte und Unternehmen. In einer Region, in der bald jeder Dritte älter als 64 sein wird, ist das Gift. Kurzum: Auch die Wahl der AfD ist ein Schuss ins eigene Knie – ähnlich wie der Brexit.

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Rechtsruck und soziale Spaltung: Manches erinnert derzeit an Weimarer
Verhältnisse. Doch die erste deutsche Demokratie bietet auch positive
Anknüpfungspunkte.

Weimar ist ein Magnet. Allein 2017 übernachteten 740.000 Touristinnen und Touristen in der Stadt. Die Gäste besuchen bisher vor allem die Orte der deutschen Klassik und die Gedenkstätte Buchenwald. Ab sofort gibt es eine weitere Sehenswürdigkeit von internationalem Rang: Am 31. Juli eröffnet das Haus der Weimarer Republik, pünktlich zum 100. Gründungsjahr der ersten parlamentarischen Demokratie auf deutschem Boden. Eine multimediale Dauerausstellung nimmt die Besucherinnen und Besucher mit auf eine Zeitreise in die Jahre 1919 bis 1933. Im kommenden Jahr werden Räume für Sonderausstellungen und Bildungsangebote dazukommen.

Dieses Projekt kommt zur richtigen Zeit. Lange spielte die erste Republik im deutschen Geschichtsbild eine untergeordnete Rolle. Dabei ist die Geschichte der Weimarer Republik für unsere Gegenwart von großer Bedeutung. Gerade auch die Jüngeren sollten sich intensiv mit ihr auseinandersetzen. Denn ähnlich der Weimarer Zeit steht unsere Demokratie heute gehörig unter Druck, wenngleich unter ökonomisch geradezu schlaraffenlandartigen Bedingungen. Der Diskurs verschiebt sich nach rechts. Früher Unsagbares ist salonfähig geworden, Fake-News und Hassbotschaften vergiften den öffentlichen Raum. Die Politik- und Demokratieverdrossenheit nimmt zu.

Dem Statistischen Bundesamt zufolge sagen 41 Prozent, sie seien nicht zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie (zufrieden: 43 Prozent). Immer weniger Menschen sind bereit, sich demokratisch zu engagieren. Immer mehr halten die Demokratie für eine Selbstverständlichkeit – wie den Strom aus der Steckdose. Sachsens SPD-Chef Martin Dulig hat es so formuliert: „Wir haben Leute in Ostdeutschland, die halten Demokratie für einen Pizzaservice: Ich bestelle, ihr liefert. Das führt zu einer permanenten Unzufriedenheit.“

Zu wenig entgegenzusetzen
Wer sich mit der Zeit zwischen 1919 und 1933 beschäftigt, dem wird klar: Demokratien haben keine Ewigkeitsgarantie. Sie können auch zerstört werden. Die Weimarer Republik war nicht von Dauer, weil sich die Gesellschaft spaltete und radikalisierte. Auf dem Nährboden von sozialer Ungleichheit und ökonomischer Verunsicherung wuchs der politische Extremismus. Am Ende hatte die schmale politische Mitte aus Sozialdemokraten und aufgeklärten Liberalen den radikalen Kräften nicht genug entgegenzusetzen. Die Konservativen wirkten seltsam unschlüssig. Es folgte die Jahrhundertkatastrophe.

Natürlich ist Berlin nicht Weimar. Der heutige Verfassungskonsens ist viel stärker als damals. Die Weimarer Republik war von Beginn an umstritten und wurde als „undeutsch“ diffamiert. Die Bundesrepublik hingegen hat eine eigene Identität entwickelt und wird von einem breiten demokratischen Konsens getragen. Doch wir müssen wachsam sein. Die zunehmend rechtsextremistische AfD spricht von „Umsturz“, davon, das „Parteiensystem abzuschaffen“ und von der „Kanzler-Diktatorin“. Ihr Thüringer Sprecher Björn Höcke sagt: „Der Parteiengeist muss überwunden, die innere Einheit hergestellt werden.“ Dass die AfD trotz dieser Geisteshaltung auf Zustimmung stößt, ist ein Alarmsignal.

Zumal auch bei uns die Spaltungstendenzen in der Gesellschaft zunehmen. Wir haben zwar keine Weimarer Verhältnisse. Aber es besteht Anlass zur Sorge. Fast im Monatsrhythmus erscheinen wissenschaftliche Studien, die auf die wachsende Ungleichheit in Deutschland hinweisen. Beispielsweise ergibt ein neuer Bericht des Internationalen Währungsfonds, dass der Export-Boom der vergangenen Jahre den Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert hat.

Dazu passt die jüngste Studie der Universität Bonn, wonach in den vergangenen Jahren mehr als die Hälfte der Vermögenszuwächse durch Immobilienbesitz auf die Konten der zehn Prozent reichsten Deutschen floss. Gerade im Osten haben viele Menschen das Gefühl, Opfer gebracht zu haben,
ohne von den wirtschaftlichen Erfolgen zu profitieren oder aufsteigen zu
können. Das macht sie anfällig für Populisten.

Morbide Demokratie in der Dauerkrise?
Aber nicht nur ökonomische Fragen treiben die Spaltung der Gesellschaft in Deutschland 2019 voran, auch kulturelle Unterschiede werden immer manifester. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für den gesamten „demokratischen Westen“. Die Brexit-Abstimmung in Großbritannien und die Wahl Donald Trumps haben gezeigt, wie sehr sich die polyglotte, weltoffene Bevölkerung in den urbanen Zentren in ihren politischen Einstellungen und Mentalitäten inzwischen von vielen Bürgern und Bürgerinnen auf dem Land und in den Kleinstädten unterscheidet. Die in der Stadt Lebenden sind finanziell noch nicht einmal besser gestellt, blicken aber nicht selten auf die übrigen Landesteile herunter. Das verstärkt die innere Aggression unserer Gesellschaft.

Diesen Antagonismus gab es übrigens schon in der Weimarer Republik: Die liberale Bevölkerung vergnügte sich in Berlin, während die reaktionäre Mehrheit auf dem Land und in den Kleinstädten lebte. Beide diffamierten sich gegenseitig und schwächten so die politische Kultur.

Die Geschichte der Weimarer Republik zeigt, wie wichtig eine Politik für den sozialen Zusammenhalt
ist. Wir brauchen höhere Löhne, mehr Wohnraum, bessere Schulen, mehr soziale und öffentliche Sicherheit, damit der wirtschaftliche Wandel keine Verlierer produziert. Auch müssen wir verhindern, dass Stadt und Land sich immer weiter auseinanderentwickeln. Das aktuelle Bestreben von Bund,
Ländern und Kommunen, in ganz Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, ist deshalb ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie.

Die Weimarer Verfassung war ihrer Zeit voraus
Für diese großen Herausforderungen – und das ist wichtig – bietet die Weimarer Republik auch viele positive Anknüpfungspunkte, die Mut machen und aus denen sich Kraft schöpfen lässt. Das verbreitete Bild einer morbiden Demokratie in der Dauerkrise ist viel zu einseitig. Die Weimarer Republik steht auch für das Streben nach Freiheit und für eine lange deutsche Demokratietradition – vom Hambacher Fest 1832 über die Märzrevolution 1848/49 bis zur Wiedervereinigung. Sie wurde von Werten geprägt, die bis heute gelten: Demokratie, Gleichberechtigung, Vielfalt, Sozialstaat. Sie hatte eine Verfassung, die ihrer Zeit voraus war und auf die die Väter und Mütter des Grundgesetzes aufbauen konnten; zentrale Normen der Reichsverfassung wurden übernommen. Sie brachte soziale Fortschritte, von denen wir heute noch profitieren, etwa die institutionalisierte Sozialpartnerschaft sowie die Einführung der Arbeitslosenversicherung und des Achtstundentages.

Außerdem hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Recht darauf hingewiesen, dass die Weimarer Republik keineswegs eine Demokratie ohne Demokraten war. „Diese mutigen Frauen und Männer standen viel zu lange im Schatten der Geschichte vom Scheitern der Weimarer Demokratie.“ Ihnen gebühre „Respekt, Hochachtung und Dankbarkeit“. Das „Haus der Weimarer Republik“ ist auch ein Ort, an dem den vielen demokratisch engagierten Menschen aus dieser Zeit gedacht werden soll.

Der neue Vorsitzende der sächsischen CDU-Landtagsfraktion, Christian Hartmann, hat ein „Faible für deutsche und europäische Geschichte“. So steht es auf seiner Internetseite. Er wird also Franz von Papen kennen, den konservativen Reichskanzler 1932. Von Papen meinte, die rechtsradikalen Kräfte der Weimarer Republik durch Einbindung zähmen zu können. Wie rücksichtslos die Feinde der Republik ihre politischen Ziele verfolgen würden, unterschätzte er fundamental. Gerade von einem Christdemokraten darf man deshalb eine besondere Sensibilität im Umgang mit der rechtsextremen AfD erwarten. Doch Christian Hartmann denkt nicht daran. Er hält sich eine Koalition mit der AfD „aus Respekt vor den Wählern“ bewusst offen – auch in einem weiteren ausführlichen Interview schließt er eine Koalition mit der AfD nicht aus. Wenn ein führender CDU-Vertreter so redet, hilft er kräftig mit, die AfD salonfähig zu machen.

Christian Hartmann verkündet die Annäherung an die AfD zu einem Zeitpunkt, an dem diese Partei ihre Maske endgültig fallengelassen hat. Auf den Demonstrationen Anfang September in Chemnitz verbrüderte sie sich mit Pegida und verschiedenen rechtsradikalen Gruppen. Auf dem gemeinsamen „Schweigemarsch“ lief vorne Björn Höcke, der Anführer des völkisch-nationalen „Flügels“ der AfD. Seit diesem öffentlichen Schulterschluss steht fest: Die AfD ist keine bürgerliche Partei, sondern der parlamentarische Arm der extremen Rechten in Deutschland. Die inhaltlich-programmatische Rechtsradikalisierung der AfD, die seit längerem zu beobachten ist, geht einher mit der organisatorisch-strukturellen Öffnung in Richtung des rechtsextremistischen Milieus.

Nun mag man einwenden, dass auf den Demos in Chemnitz nicht nur Neonazis, sondern auch ganz normale Bürger mitgelaufen sind. Ebenso gilt natürlich, dass nicht alle AfD-Wähler Fremdenfeinde und Nationalisten sind. Aber gebietet es deshalb der „Respekt vor den Wählern“ (Christian Hartmann), sich der AfD gegenüber zugewandt zu zeigen und – wie die CSU – teilweise sogar deren Positionen zu übernehmen? Natürlich nicht. Respektvoll gegenüber den Bürgern wäre es, die eigenen Werte und Überzeugungen offensiv zu vertreten. Respektvoll wären Rückgrat und Verlässlichkeit. Respektvoll wäre das offene Wort: Wer bei den Neonazis mitmarschiert, macht sich mit deren Sache gemein! Und wer die AfD wählt, der äußert keinen legitimen Protest, sondern stimmt für eine fremdenfeindliche Partei, die den Systemwechsel anstrebt! Genau deswegen kann die AfD auch kein demokratischer Koalitionspartner sein. Leider hat das Beschwichtigen und Relativieren gegenüber dem Rechtsextremismus gerade in der sächsischen Union seit Jahrzehnten Tradition. Anstatt weiter den Kotau vor der AfD zu machen, sollte sich die sächsische CDU von rechten Tendenzen endlich deutlich distanzieren.

Und auch auf Bundesebene müssen die beunruhigenden Entwicklungen rund um Chemnitz Konsequenzen haben für den Umgang mit der AfD. Seit einem Jahr sitzen die Rechtsnationalisten mit 92 Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Die übrigen Parteien haben sie – nach dem Leitbild „abgrenzen ohne auszugrenzen“ – von Beginn an fair behandelt. Die Hoffnung war, dass die AfD sich an der parlamentarischen Arbeit konstruktiv beteiligen und an die Regeln des Bundestages halten würde.

Das Gegenteil ist eingetreten. Die AfD arbeitet im Parlament nicht mit, sondern missbraucht den Bundestag als Bühne für die eigene Social Media-Propaganda. Ihre steuerfinanzierten Fraktionsgelder konzentriert sie nicht auf die parlamentarische Arbeit, sondern betreibt künftig einen eigenen „Newsroom“, um den angeblichen „Fake News“ der klassischen Medien eigene Wahrheiten entgegenzusetzen. Im Plenum selbst versucht die AfD immer häufiger, rechtsextreme Kampfbegriffe salonfähig zu machen („entartet“, „Flüchtlingswelle“, „Bevölkerungsaustausch“). Dabei verknüpft sie jeden noch so speziellen Tagesordnungspunkt mit dem Zuwanderungsthema. Es passt ins Bild, dass die zahlreichen Verbindungen von Bundestagsmitarbeitern der AfD in die rechtsextreme Szene mittlerweile gut dokumentiert sind.

Aus diesem Grund sollte, was für die Straße gilt, auch für das Parlament gelten: Die demokratischen Kräfte müssen sich deutlicher als bislang von der Partei abgrenzen. Das betrifft erstens die Parlamentsdebatten. Weiterhin werden wir rassistischen, menschenfeindlichen oder geschichtsklitternden Äußerungen scharf entgegentreten. Zweitens muss der Verfassungsschutz die jüngste Radikalisierung der AfD genau analysieren und dann entscheiden, ob die Kriterien für eine formale Beobachtung erfüllt sind.

Drittens ist gerade die SPD aufgefordert, die AfD in der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu demaskieren und die eigenen Vorstellungen für ein zukunftsfähiges, solidarisches Land in den Vordergrund zu stellen. Wie die aktuellen Debatten um Rentensicherung und Mietenstopp zeigen, hat die AfD keine eindeutigen Positionen und keine Problemlösungskompetenz. „Ausländer raus“ ist eben keine Antwort auf steigende Mieten, lange Wartezeiten beim Arzt oder die Personalengpässe in Schulen und Polizeibehörden. Angesichts dieser inhaltlichen Leere wirkt Alexander Gaulands jüngste Polemik in dieser Zeitung gegen die politisch prägenden Parteien dieses hochattraktiven Landes, in dem 99 Prozent der Weltbevölkerung mit Sicherheit gern leben würden, seltsam hohl.

Klare Kante statt Anbiederung gegenüber der AfD – so muss der gemeinsame Ansatz aller demokratischen Parteien lauten. Dies weiß auch Angela Merkel, die Christian Hartmanns Äußerungen widersprochen hat. Dass allerdings Unionspolitiker der CDU-Bundesvorsitzenden in dieser zentralen Frage auf der Nase herumtanzen, lässt für die künftige Strategiefähigkeit der Union nichts Gutes erahnen.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main

Die mühsam errungene Einigung über eine gemeinsame Bankenkontrolle wurde bereits bei ihrer ersten Anwendung missachtet. Das ausgearbeitete Regelwerk wird durch zu viele Ausnahmen porös Die letzten beiden Monate stellten die europäische Bankenunion auf eine Bewährungsprobe. Wir erinnern uns: Zwischen 2008 und 2015 gaben EU-Mitgliedsstaaten etwa 747 Milliarden Euro für die Rettung notleidender Banken aus, zuzüglich weiterer 1,19 Billionen Euro in Form von Garantien. Manche Länder, allen voran Irland, überstrapazierten ihren Haushalt dabei in derart bedrohlichem Ausmaß, dass aus der Bankenkrise vielerorts eine Staatsschuldenkrise wurde.

Um den sogenannten Staaten-Banken-Nexus zu durchbrechen, verständigten sich die Staats- und Regierungschefs im Juni 2012 auf eine auf drei Säulen basierende Bankenunion, welche im Mai 2014 umgesetzt wurde. Die erste Säule, die europäische Bankenaufsicht (SSM), nahm ihre Tätigkeit 2014 mit dem ersten europäischen Bankenstresstest, der mitunter erhebliche Kapitallücken ans Tageslicht brachte, auf. Der gemeinsame Abwicklungsmechanismus (SRM) sowie die EU-Abwicklungsrichtlinie (BRRD), als zweite Säule, sollten verhindern, dass abermals Bankenverluste sozialisiert werden.

Bail-in statt Bail-out war das Zauberwort. Anstelle der öffentlichen Hand werden nunmehr Eigentümer und Gläubiger im Falle einer Bankensanierung zur Kasse gebeten. Die dritte Säule blieb die Unvollendete. Statt einer gemeinsamen Einlagensicherung, die von vielen als Vergemeinschaftung von Bankverlusten abgelehnt wurde, verwirklichte die Einlagensicherungsrichtlinie (DGSD) harmonisierte nationale Einlagesicherungsfonds, in welche die Banken des Landes Vorsorgezahlungen leisten müssen. Diese Dreifaltigkeit der Bankenregulierung, so hoffte man, würde für Finanzstabilität sorgen und eine Abwälzung von Bankenverlusten auf die Allgemeinheit verhindern.

In den vergangenen zwei Monaten wurde diese Hoffnung getestet. Als erster erfolgreicher Anwendungsfall wurde die spanische Banco Popular Anfang Juni abgewickelt. Die spanische Großbank Santander übernahm die Banco Popular um einen symbolischen Euro. Im Fall einer Bankenpleite sind zwei Kriterien Voraussetzung, um Hilfen aus dem zum Abwicklungsmechanismus gehörenden Fonds beanspruchen zu können: die Feststellung der Insolvenz sowie der systemischen Relevanz eines Institutes durch die europäische Bankenaufsicht (SSM). Wird beides bejaht, fließen EU-Gelder.

Doch bereits wenige Wochen nach der gelungenen Generalprobe zeigten drei italienische Banken, dass Ausnahmen vermeintlich die Regeln bestätigen. Zuerst genehmigte die Kommission im Fall von Monte dei Paschi di Siena, die älteste noch existierende Bank der Welt, eine „vorsorgliche Rekapitalisierung“ in Höhe von 5,4 Milliarden Euro aus dem italienischen Budget. Kurz danach wurde zwei notleidenden venezianischen Volksbanken, der Banca Veneto und der Banca Popolare di Vicenza, mangels ihrer Systemrelevanz die Abwicklung nach nationalem italienischem Recht zugestanden. Wieder belasten 5,2 Milliarden Euro als Sofortmaßnahmen und etwaige weitere 17 Milliarden an Garantien den Haushalt Italiens, dessen Staatsverschuldung die zweithöchste der Eurozone ist.

Nicht weil sie zu wenig systemrelevant oder zu klein wären, sondern eben weil sie zu groß sind, fordern französische Banken nun eine Ausnahme von der Zielausstattung von 0,8 Prozent der gesetzlich garantierten Einlagen (100.000 Euro). Bereits 2013 wurde auf Betreiben Frankreichs in Artikel 10 (6) der Richtlinie über Einlagensicherungssysteme ein Ausnahmetatbestand geschaffen, der Ländern mit „hoher Konzentration“ am Bankensektor einräumt, im Falle einer Genehmigung durch die EU-Kommission bloß eine Zielquote von 0,5 Prozent in den nationalen Einlagesicherungsfonds einzubezahlen. Dabei bleibt die Richtlinie sowohl eine Definition von „hoher Konzentration“ als auch Schwellenwerte, bei deren Überschreitung eine solche am Bankenmarkt gegeben ist, schuldig.

Wettbewerbsverzerrend
Frankreichs fünf größte Banken besitzen jedenfalls einen kumulativen Marktanteil von 85 Prozent, und die Behörden des Landes haben bereits einen Antrag auf Herabsetzung der Zielquote bei der EU-Kommission eingereicht. Es verdichten sich die Anzeichen, dass diesem schlussendlich stattgegeben wird: Einerseits weist die europäische Bankenaufsichtsbehörde EBA bloß bei Frankreich eine Zielquote von 0,5 Prozent auf. Andererseits lässt sich der Homepage des nationalen Einlagesicherungsfonds FGDR entnehmen, dass die Zielausstattung „mindestens 0,5 Prozent“ betrage. Im Ernstfall bleibt aber zu bezweifeln, ob ein stark oligopolistischer Bankensektor weniger krisenanfällig sei – erinnert eine solche Marktstruktur nur allzu gegenwärtig an „too big to fail“.

Wie bei den italienischen Bankenrettungen handelt es sich auch in diesem Fall womöglich um wettbewerbsverzerrende staatliche Förderungen. Der Vorteil französischer Banken durch die verminderte Zielquote wird auf rund drei Milliarden Euro beziffert. Und auch Frankreich besitzt mit 95 Prozent nicht die nachhaltigste aller Staatsschuldenquoten.

Somit stehen alle drei Säulen der Bankenunion unter Beschuss. Die erste, weil im Zuge der Stresstests, neben anderen, genau jenen drei Banken Kapitallücken attestiert wurden, die nun vom italienischen Steuerzahler gerettet werden – und die Aufsicht somit wirkungslos blieb. Die zweite wird von der gegenwärtigen Praxis der nationalen Abwicklung unterminiert, und die harmonisierten nationalen Einlagefonds verlieren massiv an Funktionstüchtigkeit, wenn sie unterkapitalisiert sind.

Zwar hätten wir das Regelwerk, um Banken haushaltsschonend abzuwickeln, aber wie die Bewährungsprobe gezeigt hat, fehlt der nötige Umsetzungswille. Bei der bedrohlich hohen Zahl an notleidenden Krediten führt der gegenwärtige Trend zu Ausnahmen wohl kaum zu jener Disziplin seitens anderer Mitgliedsstaaten, die im Sinne einer funktionierenden Bankenunion geboten wäre.

(c ) Der Standard

Märkte brauchen Regeln. Der Wochenmarkt braucht eine Genehmigung, die Händler eine Zulassung. Die Verbraucher verlassen sich darauf, dass die Lebensmittel in Ordnung sind, das Gemüse frisch, Fleisch und Fisch gekühlt. Diese Regeln werden für den Wochenmarkt nicht infrage gestellt – doch leider stets für Finanzmärkte. Deutschland hat zurzeit die Präsidentschaft der G 20 inne. Die G 20 hat eine zentrale Rolle, die Folgen der Finanzmarktkrise zu überwinden und bessere Regeln zu schaffen weltweit. Gerade in Zeiten, in denen sogar Staaten wie die USA und Großbritannien zu nationalen Lösungen zurückkehren. Weltwirtschaftswachstum und freier Handel sind wichtig für mehr Wohlstand für alle. Hinzukommen müssen aber sichere, faire und gut beaufsichtigte Finanzmärkte. Das geht nur mit klaren Regeln.

Beim G 20-Finanzministertreffen am Donnerstag muss Bundesfinanzminister Schäuble dafür sorgen, dass drei Punkte angepackt werden. Erstens: Die Banken in Europa „aufräumen“. Immer noch ist zu viel faules Gemüse in den Bilanzen und verzehrt Eigenkapital. Nicht überlebensfähige Institute ohne gutes Geschäftsmodell müssen den Markt verlassen.

Zweitens: Begonnene G20-Initiativen erfolgreich abschließen. Dazu gehört die bessere Aufstellung der Banken für die Zukunft. Der Baseler Ausschuss der Notenbanken und Aufsichtsbehörden muss die Bankenregeln zurzeit überarbeiten („Basel IV“). Die Bankenlobby läuft Sturm. Sie wollen selbst berechnen, wie hoch ihr Risiko ist. Dabei kommen sie zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Welchen Wert haben diese Modelle aber, wenn Risiken schöngerechnet werden können und Eigenkapitalverschärfungen so ins Leere laufen?

Drittens: neue G20-Initiativen voranbringen. Die Staats- und Regierungschefs haben sich auf dem G20-Gipfel 2016 zu einer raschen Umsetzung der Maßnahmen gegen Steuerverlagerung und Gewinnverschiebung verpflichtet und infolge der „Panama-Papiere“ beschlossen, Steuertransparenz und die Identifizierung wirtschaftlich Berechtigter von Unternehmen zu verstärken. Ziel ist, bis 2017 eine schwarze Liste nichtkooperativer Staaten und Sanktionsmöglichkeiten zu beschließen. Die muss jetzt kommen, zusammen mit dem Kampf gegen Schattenbanken, Finanzwetten auf Rohstoffe und Nahrungsmittel und der Trockenlegung der Finanzkanäle für Geldwäsche und Terrorismus.

Nicht mehr Freiheit für die Wall Street, wie Präsident Trump meint, und nicht Dumpingsteuern, wie Premierministerin May sie verfolgt, sind die Lösung. Sie entziehen Staaten ihre finanzielle Basis und nähren die nächste Krise. Zahlen dürften dann wieder die kleinen Leute. Wir brauchen bessere internationale Regeln.

(c) Handelsblatt

Die Regeln der Bankenunion müssen weiter verschärft werden, fordern Carsten Schneider und Jakob von Weizsäcker.

Wenn die Probleme der Deutschen Bank und der italienischen Banken weiter verschleppt werden, steht die Glaubwürdigkeit der europäischen Bankenunion auf dem Spiel. Politisch braucht die Bankenunion endlich die volle Rückendeckung der Mitgliedstaaten für ein gründliches Aufräumen in der Finanzbranche. Eine gewisse Konsolidierung ist für Europas Bankenlandschaft unvermeidlich, denn nicht jede Bank hat ein vernünftiges Geschäftsmodell. Und Banken ohne Geschäftsmodell schaden Wirtschaft und Finanzstabilität besonders aufgrund ihrer Neigung zum Zocken, um zu überleben – bis es eben knallt.

Im Rahmen der europäischen Trennbanken-Gesetzgebung sollte eine Beweislastumkehr für die größten Banken in der EU eingeführt werden. In Zukunft sollen sie der europäischen Bankenaufsicht nachweisen müssen, dass die Risiken in ihren hochkomplexen Bilanzen unter Kontrolle sind. Damit würde die Stellung der Aufsicht gerade im Konfliktfall vor Gericht gestärkt. Gelingt den Banken der Nachweis nicht, würden sie aufgespalten oder müssten deutlich mehr Eigenkapital Vorhalten.

Dabei ist der Ansatz des Baseler Ausschusses zu begrüßen, den hausgemachten Risikomodellen der Banken weniger zu vertrauen. Der Aufschrei der Lobby war erwartbar. Wir hoffen, dass sich die Union nicht länger kritiklos vor deren Karren spannen lässt. Stattdessen muss unser gemeinsames Ziel sein, schrittweise Eigenkapitalerhöhungen in Einklang mit einem nachhaltigen Finanzierungsmodell zu bringen und eine europäisch gangbare Lösung zur Berücksichtigung der Risiken von Staatsanleihen in den Bankbilanzen zu erreichen.

Zudem ist bei der anstehenden europäischen Gesetzgebung darauf zu achten, dass hinreichend viel nachrangiges und wirklich verlustfähiges Fremdkapital vorgehalten wird, damit der im Rahmen der Bankenunion vorgesehene Bail-in von Fremdkapital wirklich praktikabel wird. Aber das alles wird nicht reichen, um akute Krisensituationen zu bewältigen. Der Staat muss kurzfristig – im Extremfall innerhalb eines Wochenendes – handlungsfähig sein. Leider sind die europäischen Entscheidungsstrukturen immer noch zu kompliziert und ist der europäische Bankenrettungsfonds schlicht zu klein.

Die jüngsten Probleme der Deutschen Bank waren ein lauter Warnschuss. Er kann die erneut angeschwollenen Sirenengesänge der Banklobbyisten übertönen, die wieder einmal Wirtschaftswachstum versprechen, wenn man die Banken nur ja in Ruhe ihre Geschäfte machen lässt, statt sie mit Eigenkapitalanforderungen und Regulierung zu belasten. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Ein wichtiger Grund für die Wachstumsschwäche in der Euro-Zone ist, dass wir den Bankensektor nicht rasch und gründlich in Ordnung gebracht haben.

Carsten Schneider ist stellvertretender SPD-Fraktionschef im Bundestag. Jakob von Weizsäcker ist Abgeordneter im Europaparlament.

(c) Handelsblatt

Derzeit wird viel über Integration geredet. Dabei sollten wir auch über Heimat sprechen. Denn integrieren kann man sich nur in eine Gesellschaft mit einem hinreichend klaren und verbindlichen Selbstverständnis. Nach wie vor bildet das Grundgesetz das normative Zentrum unseres Zusammenlebens. Viele halten es für einen der besten Verfassungstexte der Welt mit Vorbildfunktion für zahlreiche Staaten, nicht zuletzt in Osteuropa.

Wenn nun ausgerechnet dort sowie in ostdeutschen Städten und Gemeinden unter dem Siegel „Heimat“ eine öffentliche Renaissance des Nationalen gefeiert wird, um identitätsstiftenden Gemeinsinn zu schaffen, wirft das Fragen auf. Gerade in Ostdeutschland, aber auch in Ungarn oder Polen sollte die Einsicht längst Allgemeingut sein: Freiheit, Offenheit und Demokratie bilden erst das Fundament, auf dem Heimathebe wachsen kann.

1989 gingen die Impulse für den Fall des Eisernen Vorhangs nicht in erster Linie von den Verlockungen der glitzernden Konsumwelt aus, wie Zyniker immer wieder behaupten. Es war doch letztlich die tiefe Sehnsucht, auf der Grundlage allgemeiner Menschenwürde in Freiheit und Selbstbestimmung leben zu können.

„Wir bleiben hier“ hieß die Losung, hinter der sich in der Wendezeit viele Bürgerrechtler, Initiativen und Parteien, auch die Anhänger der neu gegründeten ostdeutschen Sozialdemokratie versammelten. Man wollte der hebgewonnenen Heimat, den Freunden, Kollegen und Nachbarn nicht den Rücken kehren, sondern die verkrusteten Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft, Staat und Kultur aufbrechen. Während in der alten Bundesrepublik die Neuordnung des Postleitzahlenverzeichnisses auf der Tagesordnung stand, nahm die Lust am demokratischen Diskurs an den runden Tischen im Osten geradezu erotische Ausmaße an.

Die Menschen in Ostdeutschland haben seither schier Unglaubliches geleistet. Viele haben Brüche erlebt und Abstiegserfahrungen gemacht. Längst nicht alles ist perfekt, aber die meisten haben sich erfolgreich eine neue Identität geschaffen und dürfen stolz sein auf die Transformationsleistung. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass Deutschland und Europa heute zu einer echten Heimat geworden sind, deren Fundamente zu stärken und zu verteidigen sich lohnt.

Dass allein im letzten Jahr über eine Millionen Menschen Zuflucht in Deutschland gesucht haben, zeigt in aller bitteren Klarheit, wie stark die Anziehungskraft unserer Heimat weltweit ist. Derzeit kann niemand mit Sicherheit sagen, wie viele Flüchtlinge dauerhaft bei uns leben werden. Klar ist aber, dass sich unser Land schon durch das Ausmaß der Zuwanderung verändern wird. Das allein ist noch kein Grund zur Sorge. Unterschiedliche Lebensweisen, Einstellungen und Prägungen sind schon immer selbstverständliches Wesensmerkmal der deutschen und europäischen Kultur gewesen.

Doch gerade in ostdeutschen Regionen ist die Angst vor neuerlichen einschneidenden Veränderungen durch die jüngste Flüchtlingskrise virulent. Nach Jahren des Umdenkens, Neulernens und Improvisierens scheint die Transformationsbereitschaff erschöpft zu sein.

Es ist völlig absurd und inakzeptabel, den Menschen in Dresden oder Erfurt pauschal Rassismus oder gar Sympathien für die NS-Ideologie zu unterstellen, wie es leider immer wieder getan wird. Ja, das gibt es, und wer Brandsätze auf Unterkünfte wirft, Menschen vorsätzlich

verletzt oder bedroht, der muss die ganze Härte des Strafrechts spüren! Aber wer daran zweifelt, dass die Kommunen die Aufnahme der Asylbewerber leisten können, sich vor zunehmender Arbeitsmarktkonkurrenz sorgt oder eine zu starke Rolle des Religiösen ablehnt, der hat das Recht auf eine offene Debatte. Und die Politik hat die Pflicht, diese Debatten zuzulassen und sachlich zu führen!

Dass die regionalen Voraussetzungen dieser Debatte von unterschiedlichen Erfahrungs- und Lebenswelten geprägt werden, kann niemanden wundern. Es ist doch nur logisch, dass die Berührungsängste gegenüber Muslimen im deutschen und auch europäischen Osten viel stärker ausgeprägt sind. Wo selbst die christlichen Kirchen jahrzehntelang aus dem öffentlichen Raum gedrängt wurden, die Berufstätigkeit der Frau gesellschaftliche Norm war und im FKK-Urlaub wie selbstverständlich gemeinsam Bratwürste und Bier vertilgt wurden, blickt man eben skeptischer auf Kopftücher, Moscheen und Halal-Restaurants als in westdeutschen Großstädten.

Vorhandene Negativbeispiele misslungener Integration, teilweise Gettobildungen und Parallelgesellschaften wie in Duisburg oder Mannheim werden gerne auch von Ostdeutschen ins Feld geführt, um einer allzu unkritischen Multikulti-Romantik den Spiegel vorzuhalten. In der Tat benötigt ein gelingendes Miteinander Anstrengungen auch auf der Seite derer, die neu zu uns kommen.

„Wir schaffen das“ mit der Integration nämlich nur, wenn wir uns ohne Abstriche und faule Kompromisse auf dem Boden der europäischen Aufklärung verständigen können. Es ist mit unserem freiheitlichen Erbe schlicht unvereinbar, wenn der IS in Deutschland junge Flüchtlinge rekrutiert, Islamvertreter die Grundwerte unserer offenen Gesellschaft in Frage stellen oder hinter manchen Wohnungstüren religiös motivierte Patriarchate regieren. Moderne europäische Verfassungsstaatlichkeit und religiöse Absolutheitsansprüche schließen sich gegenseitig aus. Angela Merkel muss die Anerkennung der kulturellen und rechtlichen Grundlagen Europas endlich klar und fest als diejenige politische Voraussetzung benennen, ohne die ein gelingendes Miteinander nicht denkbar ist. Zu dem „Wir schaffen das!“ gehört ein beherztes „Das verlangen wir!“.

Darum ist es richtig, dass der Gesetzgeber im neuen Integrationsgesetz neben Erleichterungen für Ausbildung und Arbeitsaufnahme auch mehr Mittel für Integrationskurse bereitstellt. Wer dauerhaft in unserer Heimat leben will, muss unsere Sprache lernen und jene Grundwerte vorbehaltlos anerkennen, die wir in Deutschland und Europa über Jahrhunderte schmerzhaft erkämpft haben: personale Würde, Freiheit, Toleranz, säkulare Rechtsstaatlichkeit. Dass Menschen nach langem und oft schwerem Weg in unserem Land auch Zeit brauchen, sollten dabei gerade die Deutschen und Europäer im Osten verstehen.

Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Umbrucherfahrungen sollten sie jetzt genau den Angekommenen helfen, die Demokratie, Gleichberechtigung und Liberalität als Chance betrachten, für sich und ihre Kinder eine gemeinsame Zukunft aufzubauen, und gewillt sind, sich von religiöser, moralischer und ideologischer Bevormundung zu emanzipieren.

Vielleicht ist es an der Zeit, die Wende-Tradition der runden Tische noch einmal zu beleben, um im Gespräch Vorurteile zu überwinden, Erfahrungen auszutauschen und die Bedingungen zu verhandeln, unter denen wir alle unsere Heimat lieben können. Jedenfalls dürfen wir Deutschland und Europa nicht noch einmal den populistischen Vereinfachern von rechts und links überlassen, die sich hinter Schlagbäumen und Mauern vor der Realität verstecken wollen.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main

Über Erbschaftssteuer und Panama: Wir brauchen gerechte Steuern!
Für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft

„Zahlen Reiche eigentlich steuern?“ Diese Frage kam auf nach den Enthüllungen der Panama-Papers. Mit Hilfe von Briefkastenfirmen versuchen Wohlhabende ihre Unternehmensbeteiligungen zu verschleiern, Steuern zu vermeiden und illegal oder kriminell erworbenes Geld zu „waschen“. Auch ich habe mir diese Frage gestellt. Aber in einer anderen Sache. Nämlich während der Verhandlungen mit CDU und CSU über einen Kompromiss bei der Erbschaftssteuer: Mit einem ganzen Katalog an Forderungen hatte die CSU versucht, großzügige Ausnahmen für reiche Unternehmenserben durchzusetzen, obwohl das Bundesverfassungsgericht genau das kritisiert hatte.

Steuerpolitik ist ein wichtiges Mittel, um das solidarische Miteinander in unserem Land zu ermöglichen und zu fördern. Wer ein großes Vermögen erbt oder geschenkt bekommt, hat dafür keine eigene Leistung erbracht. Es ist sozial gerecht, diese Weitergabe von Vermögen zu besteuern. Die Erbschaftssteuer ist eine der wenigen vermögensbezogenen Steuern in Deutschland. Mit der Neuregelung wird sie das bleiben: Superreiche müssen beim Übergang großer Betriebsvermögen oder von Unternehmensteilen Steuern zahlen. Zugleich schützen wir mit der Neuregelung die Arbeitsplätze, wenn ein Betrieb oder Unternehmen vererbt wird. Es gibt bei Erbschaften auch weiterhin für Ehepartner, Kinder und Enkel hohe Freibeträge und auch für Omas berühmte „kleines Häuschen“. Daran ändert sich nichts.

Die CSU wollte übrigens die Erbschaftssteuer in die Zuständigkeit der Länder übergeben. Und sie dann in Bayern ganz abschaffen. Das hat die SPD verhindert! Derartiges Steuerdumping widerspricht dem Ziel einheitlicher Lebensverhältnisse in unserem Land. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen, wie es im Grundgesetzt heißt.

Bereits heute ist Vermögen sehr ungleich verteilt in unserer Gesellschaft. Diese Ungleichheit setzt sich auch beim Erben fort. Deshalb ist die Erbschaftssteuer so wichtig. Sie sorgt als vermögensbezogene Steuer für einen Ausgleich und für mehr Steuergerechtigkeit.

Seit Jahren vergrößert sich die Schere zwischen Arm und Reich. Auswüchse wie der Panama-Skandal oder auch die Diskussion um die Erbschaftssteuer sind Beispiele dafür. Hier müssen wir gegensteuern und bestehende Gesetze ändern oder verschärfen. Zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und bisher legaler Steuertricks hat die SPD bereits eine Reihe von Gesetzesverschärfungen auf den Weg gebracht.

Wir Sozialdemokraten sorgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Wir wollen keine gewinnsüchtige Oberschicht ohne Verantwortungsbewusstsein für unser Gemeinwesen. Und wir müssen dagegenhalten, wenn Populisten und Rechtsextreme versuchen, mit dem Schüren von Hass und Gewalt den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu zerstören.

Das beste Beispiel dafür ist die Brexit-Entscheidung in Großbritannien: Die Rechnung für den per Volksentscheid herbeigefügten EU-Austritt werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu zahlen haben! Denn der Austritt wird negative Auswirkungen auf die dortige Wirtschaft haben und den Verlust von Arbeitsplätzen. Die Abstimmung geht auf einen ungelösten Konflikt innerhalb der Konservativen Partei von David Cameron zurück. Leichtfertig wurden die wirtschaftlichen Probleme des Landes auf die EU abgeschoben statt sie in Großbritannien selbst zu lösen. Wir jedenfalls können eine Gefährdung des Friedensprojektes der Europäischen Union nicht wollen. Und auch nicht die weitere Spaltung unserer Gesellschaft.

Wir als Sozialdemokraten stellen uns mit unseren Vorschlägen derartigen Entwicklungen entgegen. Die Beseitigung von sozialen und ökonomischen Ungleichheiten wird auch in den nächsten Jahren die politische Debatte dominieren. Gehen wir es an!

(c) Wahlkreiszeitung Mahmut Özdemir, MdB

Die „Panama-Papiere“ zeigen, dass die Bekämpfung von Steuerbetrug, Steuerhinterziehung, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung ganz oben auf die politische Agenda gehört. Große Steuersummen systematisch über dubiose Offshore-Konstruktionen zu hinterziehen ist nicht nur illegal, sondern auch ein Verbrechen an der Gemeinschaft. Die Helfershelfer, also Banken, Anwalts- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, sind ebenso in Haftung zu nehmen wie die Hinterzieher selbst.

Dafür müssen wir mehr Licht ins Dunkel dieser Schattenwelt bringen. Die Adresse richtet sich an die Finanzminister der G-20-Staaten. Es ist ihr Job, dafür zu sorgen, dass möglichst viele, idealerweise alle Staaten am automatischen Informationsaustausch teilnehmen und kooperieren. Zusätzlich müssen sie zeitnah Unternehmensregister einrichten, die Angaben zu den wirtschaftlich Begünstigten von Unternehmen machen. Das muss ein völkerrechtlicher Vertrag regeln, der die Empfehlungen der OECD umsetzt. Wer hierbei nicht mitmacht, muss die Konsequenzen spüren. Die „schwarze Liste“ der OECD zu nichtkooperierenden Staaten muss angepasst und verschärft werden. Ein Durchmauscheln darf es künftig nicht mehr geben. Im Dezember dieses Jahres beginnt auch die G-20-Präsidentschaft Deutschlands. Ausreden, ausweichen, auf die lange Bank schieben – das wird sich der deutsche Finanzminister dann nicht mehr leisten können.

Natürlich hat Europa eine gewichtige Rolle. Die EU hat die Größe und den Hebel, um international neue Ansätze durchzusetzen. Der nächstliegende Schritt ist die Verschärfung der Aufsicht über die Helfer und Helfershelfer, die im Massengeschäft Briefkastenfirmen in Offshore-Staaten einrichten. Jedes einzelne Geschäft soll und muss meldepflichtig werden, um genau erfassen zu können, was es mit dem Geschäft auf sich hat. Einmal mehr: Wer nicht kooperiert, wird unmittelbar bestraft und hart sanktioniert. Es muss in Anbetracht der Dimension und Schwere der Verbrechen sogar so weit gegangen werden, dass Finanzanlagen in Offshore-Gebieten grundsätzlich und ohne Ausnahme verboten werden. Anonyme Finanzgeschäfte mit Offshore-Gebieten dürfen keine Chance mehr auf Erfolg haben.

Zusätzlich müssen die Empfehlungen der OECD zur Bekämpfung von Gewinnverlagerung und Gewinnoptimierung international tätiger Unternehmen endlich und vollständig umgesetzt werden. Lücken in der Besteuerung, wie zum Beispiel die Steuervergünstigungen für spezielle Einkünfte aus Lizenzen oder Patenten, sogenannte „weiße Einkünfte“, müssen der Vergangenheit angehören. Derzeit ermöglichen unterschiedliche nationale Regelungen, dass Einkünfte in keinem der beteiligten Staaten besteuert werden. Das darf es nicht länger geben. Zudem muss die Einführung einer gemeinsamen Grundlage für die Körperschaftsteuer inklusive Mindeststeuersätze ganz oben auf die Tagesordnung.

Auch Nationalstaaten haben aber Handlungsmöglichkeiten. Dazu gehören schmerzhafte Sanktionen gegen die geschäftsmäßige Beihilfe zu Geldwäsche und Steuerhinterziehung durch Banken. Das Aufsichtsrecht ist hier in der Pflicht. Vorgeschlagen hatte das im Jahr 2013 bereits der Bundesrat, aber die CDU blockiert bislang die Umsetzung. Die Sanktionen reichen bis zum Entzug der Banklizenz und der zivilrechtlichen Haftung für den Schaden über Geldbußen. Unternehmen, die sich an solchen illegalen Aktivitäten beteiligen, müssen deutlichere Konsequenzen spüren. Staatsanwaltschaften müssen auch bei Ordnungswidrigkeiten die Pflicht haben, zu ermitteln. Und Steuerpflichtigen in Deutschland, die Geschäftsbeziehungen zu oder in Staaten auf der „schwarzen Liste“ unterhalten, müssen erhöhte Mitwirkungspflichten gegenüber der deutschen Steuerverwaltung auferlegt werden. Und wieder: Bei Nichtkooperieren wird hart sanktioniert, und zwar bis hin zum Zugriff auf das gesamte aus den Straftaten herrührende Vermögen. Die Strafverjährung wird verschärft.

In Deutschland war Geldwäsche zu lange zu einfach. Deswegen muss sie nun schärfer bestraft werden, als die EU es derzeit noch vorschreibt. Die unmittelbare Reaktion ist die Einrichtung eines nationalen Transparenzregisters und einer Obergrenze für Bargeldzahlungen im Geschäftsverkehr. Zudem muss die Meldepflicht auch für Anwaltskanzleien oder Immobilienmakler dort verschärft werden, wo große Vermögen verschoben werden.

Doch wir müssen auch vor der eigenen Tür kehren. Innerhalb Deutschlands darf es keine sogenannten Steueroasen geben. Zu wenig Personal als Ausrede für eine laxe Steueraufsicht ist kein akzeptables Argument. Die Gesellschaft beruht auf dem Grundverständnis, dass jeder seinen gerechten Teil dazu beiträgt. Was gerecht ist, definiert die Demokratie. Wer sich dem entzieht, handelt nicht nur kriminell, sondern auch antidemokratisch.

Thorsten Schäfer-Gümbel ist stellvertetender Vorsitzender der SPD, Carsten Schneider ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, Norbert Walter-Borjans ist Finanzminister von Nordrhein-Westfalen.

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