Ein Spielbericht zur Deutschen Einheit

Superstars kann man in München, Turin oder Madrid spielen sehen, aber ehrlichen Fußball gibt es auf jedem Rübenacker in Europa. Es ist erst ein paar Wochen her, da begegneten sich der FSV Optik Rathenow und Union Fürstenwalde in der Regionalliga Nordost. Vor einer überschaubaren Anzahl an Zaungästen ging es an diesem Nachmittag hart zur Sache im Stadion Vogelgesang. Beide Mannschaften, übrigens gespickt mit Mitspielern ausländischer Herkunft, schenkten sich von Beginn an nichts. So schnell der Ball verloren ging, so engagiert holte man sich das Leder zurück. Ja, das war packender, ganz ehrlicher Fußball.

Meine Fanleidenschaft gehört eigentlich meinem Heimatverein FC Rot-Weiß Erfurt und seit den 1980er Jahren auch der Frankfurter Eintracht. Frankfurt macht in letzter Zeit viel Freude, Rot-Weiß aber musste dieses Jahr Insolvenz beantragen und ist auch sportlich deutlich aus der 3. Liga abgestiegen. Eine Tragödie für den Club, das Umfeld und die Fans; doch nach vielen wirtschaftlichen und juristischen Querelen hat man nun mit neuen Verantwortlichen und jungen Spielern wieder zurück zum sportlichen Tagesgeschäft gefunden, eben in der Regionalliga Nordost. Eine bisher aus Erfurter Sicht eher verpönte Liga.

Für Erfurt ist es eine neue Erfahrung, am Wochenende nicht mehr gegen Hansa Rostock, den Karlsruher SC oder den VfL Osnabrück vor gefüllten Zuschauerrängen, sondern auf ostdeutschen Provinzplätzen in Bautzen, Auerbach oder Neugersdorf um Punkte zu fighten. „Hurra, das ganze Dorf ist da!“, „Kniet nieder ihr Bauern, Erfurt ist zu Gast!“ und ähnliche Schlachtrufe werden nur zu gerne intoniert. Bei anderen Traditionsvereinen ist das nicht anders. Wenn der BFC Dynamo oder Lok Leipzig zum Auswärtsspiel in ländliche Gegenden reisen, fühlen sich nicht Wenige wie ein mittelalterlicher Landgraf auf Stippvisite bei seinen Vasallen. Und wenn die Bauern dann auch noch ein ebenbürtiges Duell abliefern, dann war die eigene Mannschaft eben besonders schlecht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Auch in der 1. Liga kennen wir solche Arroganz. Für den FC Bayern erscheint im Prinzip jeder Gegner im Ligabetrieb wie Optik Rathenow oder der FC Mettmann 08.

Was unter Fans als zünftiger Spaß durchaus üblich ist, wirft dennoch grundsätzliche Fragen auf. Brauchen Menschen mitunter einfach den herablassenden Blick auf andere, um die eigene Identität zu stabilisieren? Die reflexhafte Herabsetzung der und des Anderen war und ist auch für die deutsche Einheit, die in dieser Woche in aller Munde und Anlass für einen arbeitsfreien Mittwoch war, eine allgegenwärtige Hypothek.

Nicht völlig zu Unrecht denken viele Ossis dabei sofort an die jüngeren Erfahrungen der Nachwendezeit. Ob beim Verkaufsgespräch für LAMA-Gold-Decken, im neuen Job, in der Schule oder auf dem Amt: überall trafen gebürtige Ostdeutsche auf „Besserwessis“, die selten einen Hehl daraus machten, dass sie sich selbst für klüger, erfolgreicher, wohlhabender, fleißiger und selbstredend smarter hielten. Der friedliche Revolutionär von gestern wurde zu oft der abgezockte Trottel von heute. Und diese in den 90er Jahren erlebten Herabwürdigungen haben sich bei vielen Ostdeutschen tief ins gesamtdeutsche Gedächtnis gebrannt.

Aber auch innerhalb der ostdeutschen  Gesellschaft greift das Phänomen identitätsstiftender Arroganz zunehmend Raum. Als so viele Menschen nach 1990 ihre Arbeitsplätze verloren, die Kombinate abgewickelt wurden und die alten Kaufhallen mit den Lücken im Regal nun Supermärkte hießen und Konsum im Überfluss anboten, schafften manche einen erfolgreichen Spurwechsel (sic!) und viele andere blieben ohne adäquaten Job und ökonomische Perspektive. Und obwohl man Jahre oder Jahrzehnte lang im selben Betrieb, in derselben Abteilung gearbeitet hatte, die Kinder in die gleiche Klasse gingen und man vielleicht sogar erfolgreich in der Betriebssportgemeinschaft (BSG) gekickt hatte, ging man sich schon recht bald aus dem Weg. Der Betrieb war dicht, die Kinder im Westen und die BSG ein Relikt vergangener Zeiten.

Während die Erfolgreichen und Flexiblen weder Zeit für noch Interesse an alten Kontakten hatten, wenn sie keinen geschäftlichen Vorteil boten, zogen sich die weniger Erfolgreichen zunehmend beschämt zurück ins Private. Nicht lange Zeit später war es sogar in Mode, die eigene Erfolgsstory mit einem selbstgerechten Fingerzeig auf die Arbeitslosen, die ja nur zu wehleidig oder bequem wären, zu garnieren. Das Unglück der anderen als Spiegel der eigenen Überlegenheit?

Heute scheint es in Ost und West für nicht wenige Menschen identitätsstiftend zu sein, die überhebliche Nase über die faulen Südeuropäer oder vermeintlich nassauernde Migranten zu rümpfen. Manche Leute haben zwar noch nie einen Kriegsflüchtling oder Asylbewerber gesehen, aber schon allein ihre medial konstatierte geographische Anwesenheit wertet das eigene Deutschsein überproportional auf.

Und dann erst „die da oben“: Parteipolitiker, Medienvertreter und Unternehmensvorstände bilden offensichtlich grundsätzlich hinreichende Legitimation für die eigene Verachtung. Der moralisierende Fingerzeig auf die „Eliten“ geht eigentlich immer und stärkt sowohl Selbstvertrauen als auch das Gruppengefühl.

Dabei sind gerade Politiker nicht davor gefeit, ebenso arrogant auf ihre Kritiker herabzublicken. Vielleicht ist dieser Reflex eine allzu menschliche Versuchung und der geringschätzende Blick nach „unten“ unterscheidet sich vom verteufelnden Blick nach „oben“ nur dem Worte nach.

Ich selbst versuche redlich, in Gesprächen mit kritischen Zeitgenossen jede Form von Besserwisserei oder Herabsetzung von Gesprächspartnern zu vermeiden, auch wenn das nicht immer leicht fällt. Wenn mir ein Bürger in Erfurt im Wahlkampf eine halbe Stunde lang erklärt, dass weder Gerichte noch Behörden ihm etwas zu sagen hätten, weil die BRD gar nicht existiere und er derzeit als „Übergangsregierung“ des Deutschen Reiches quasi diplomatische Immunität genieße, kommt auch mir schon mal das Wort „Zeitdiebstahl“ über die Lippen.

Deutschland im Jahr 2018 sollte sich am harten, aber ehrlichen Fußball in den unteren Ligen ein Beispiel nehmen. Wir haben kein vorrangiges Problem mit Härte und Meinungsstärke in der politischen Auseinandersetzung, sondern mit der fehlenden Anerkennung der anderen Perspektive. Das gilt unisono für Parlament und Stammtisch, für Dorf und Stadt und in München wie in Bautzen.

Optik Rathenow und Union Fürstenwalde trennten sich an diesem Spätsommernachmittag übrigens nach beherztem Kampf 2:2 unentschieden. Ein gerechtes Ergebnis, auf Augenhöhe.

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Kennen Sie die schöne Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“? Der großartige deutsche Romantiker Joseph von Eichendorff verfasste im Jahre 1826 diese lebensfrohe und spannende Geschichte eines jungen Müllersohnes, der lieber in der Sonne lag als dem Herrn Vater tüchtig zur Hand zu gehen und in der Folge dieses frühkapitalistischen Interessenstreits vom Hofe zog, um in der weiten Welt sein Glück zu machen. Ausgestattet mit viel jugendlicher Unbekümmertheit und einer Geige fand der junge Bohemien alsbald durch die Gunst einer schönen Frau eine Anstellung als Gärtner und später gar als Zolleintreiber an einem Hofe bei Wien. Als der Bursche alsbald seine „Allerschönste“ in der Gunst eines Offiziers wähnte, verließ er seinen Zufluchtsort in Wien und zog weiter in Richtung Italien.

Wenn Sie nun denken, das alles klinge irgendwie nach hedonistischen Mittelstandskindern der heutigen Zeit, die als Backpacker nach Sumatra fliegen, irgendwas mit Medien studieren, aber noch nicht einmal Geige spielen können, dann stimme ich ihnen zu. Umso erstaunlicher ist es, dass die Frau Dr. Weidel von der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag während der Generaldebatte zum Haushalt des Bundeskanzleramts „Burkas“, „Kopftuchmädchen“ und „alimentierte Messermänner“ in einem Satz als „Taugenichtse“ bezeichnet hat, was Ihr nicht nur einen berechtigten Ordnungsruf des Bundestagspräsidenten eintrug, sondern auch eine veritable Unkenntnis der deutschen Romantik offenbart. Es sei denn, es war ihre Absicht, jene Leute als angenehme, gut gelaunte und naturbegeisterte Wandersleute darzustellen.

Wie dem auch sei: Der echte Taugenichts kam nach seiner abrupten Abfahrt aus Wien über einige Umwege schließlich in Rom an. Hier wandelte er nach dem Erhalt eines vermeintlichen Liebesbriefes seiner Angebeteten Sehnsüchten und Trugbildern hinterher, um schließlich einsehen zu müssen, dass er auf dem Holzweg ist.

Einige Jahrzehnte später hätte er vielleicht auch Italiens berühmtesten Hampelmann vor Silvio Berlusconi getroffen: Pinocchio. Die lustige Holzpuppe hatte nur ein im politischen Geschäft eher nachteiliges Handicap, denn bei jeder Lüge wuchs ihre Nase ganz beträchtlich. Bei den neuen politischen Entscheidungsträgern in Rom ist nasenmäßig bis jetzt noch nichts ins Auge gesprungen. Aber Europa tut sicher gut daran, den Herren Salvini von der Lega Nord und Grillo von der Fünf-Sterne-Bewegung genau auf die Finger bzw. die Nasen zu schauen, wenn sie demnächst von der europäischen Integration und der gemeinsamen Währung sprechen.

Zurück zu unserem „Taugenichts“: Am Ende erfährt der überglückliche Weltenbummler in Wien, dass seine „Allerschönste“ die Pflegetochter der Gräfin ist und überdies ebenso innige Liebe für ihn empfindet. Zur Hochzeit beschenkt der Herr des Hauses die beiden noch mit einem Schloss samt Garten und Weinbergen.

Und was lehrt uns die Geschichte?
1. Die deutsche Romantik muss vor der AfD geschützt werden.
2. Alice Weidels Vergleiche taugen nichts.
3. Von italienischen Populisten sollte sich Europa nicht an der Nase herumführen lassen.
4. Am Ende gewinnen die Guten.