Der neue Manager der SPD-Bundestagsfraktion ist kein großer Redner, auch in Talkshows tut er sich manchmal schwer. Aber dafür verkörpert Carsten Schneider etwas, was viele in seiner Partei verlernt haben: Er ist bürgerlich und nüchtern.
Die SPD hat zwei Weltkriege überlebt, aber ob sie die dritte grosse Koalition unter Angela Merkels Führung übersteht, weiss niemand. Überstehen heisst hier: eine relevante Kraft im Parteiensystem bleiben. Als Heimat künftiger Kanzler. Bei der Bundestagswahl 2005 hat jeder dritte Deutsche SPD gewählt, heute wäre es etwa jeder sechste.
Broschüren verteilen an der heiligen Stätte
Einer, der die Trendwende mit herbeiführen soll, ist Carsten Schneider. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion ist 42 Jahre jung, hat aber fast sein halbes Leben im Bundestag verbracht. Kaum ein Genosse kennt die Regeln und die Tücken des politischen Betriebs der Hauptstadt so gut wie er. Zugleich kennt kaum ein Wähler Carsten Schneider. Das liegt in erster Linie an ihm selbst. Der Bankkaufmann aus Thüringen wirkt dermassen nüchtern, dass selbst mässig charismatische deutsche Parlamentarier neben ihm wie kleine Obamas wirken. Das Wildeste, was der Mann macht, ist Rennrad fahren, einmal die Woche 70 bis 100 Kilometer durch das Berliner Umland. Doch genau diese unaufgeregte Art könnte in den nächsten Jahren ein Erfolgsrezept sein, für ihn und für seine Partei.
An einem Freitag im April steht Carsten Schneider auf dem Marktplatz im thüringischen Gotha im Nieselregen und verteilt Broschüren. Es sind noch zwei Tage bis zur Kommunalwahl, und «Kohsten», wie sie ihn hier rufen, will die Genossen aus der Heimat unterstützen. Gotha, muss man wissen, ist nicht irgendein Provinznest. Wenn es einen Ort gibt, der für die einst streng laizistische SPD den Status einer heiligen Stätte hat, dann diesen.
In Gotha haben sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammengeschlossen – 1890 umbenannt in SPD. Hier haben August Bebel und Wilhelm Liebknecht mit dem «Gothaer Programm» das Leitbild einer Linken formuliert, die die Verhältnisse im Sinne der Arbeiter reformieren und nicht revolutionär umstürzen wollte. Und hier will Schneider, der 1976 im nahen Erfurt zur Welt kam, darüber sprechen, wie seine Partei wieder auf die Beine kommen kann.
Kanzler? Er?
Doch vor der Theorie kommt die Fussgängerzone. Wie wenig Schneider hier in seinem Element ist, merkt man schon nach ein paar Minuten. Während Gothas SPD-Oberbürgermeister, ein Schlosser namens Knut Kreuch, jedes Kleinkind in seiner Reichweite knuddelt und jeden zweiten Passanten mit Namen und Handschlag begrüsst, wirkt Schneider weniger wie ein Wahlkämpfer, sondern eher wie ein Wahlbeobachter. «Na, du Ganove», ruft Kreuch einem Passanten zu und ergreift dessen rechten Unterarm mit beiden Händen. Anschliessend erzählt er von seinen Gedichten, seiner Liebe fürs Theater und seinem Wirken als Präsident des Deutschen Trachtenverbandes.
Wie viele Kostüme besitzt er selbst? «Kostüme?», brüllt Kreuch mit gespielter Empörung und so laut, dass es der halbe Marktplatz hört. «Tracht ist kein Kostüm! Tracht ist das Kleid der Heimat!» Dann lacht er. Einem Paar mit Kinderwagen stellt er den Reporter, den er erst seit diesem Nachmittag kennt, als «meinen Kumpel aus der Schweiz» vor. Dem wiederum verrät er, dass er «die zwei Hübschen» kraft seines Amtes selbst getraut habe. Mein Brautpaar, meine Wähler, meine Stadt, sagt Kreuchs Blick. Zum grauen Anzug von der Stange trägt das Stadtoberhaupt rote Schnürsenkel. Bloss nicht schicker sein als die Wähler.
Schneider hingegen wirkt mit seinem schmalen dunkelblauen Mantel und den feinen Wildlederschuhen fast ein bisschen zu weltmännisch für die Fussgängerzone von Gotha. Wenn er Hände schüttelt, dann kurz und trocken. Wenn er grüsst, dann ohne Verbrüderungsgesten. «Ich bin kein Schauspieler», sagt er. Ein Mann für grosse Bühnen sei er auch nicht. Was heisst das? Ein Ministerium käme vielleicht irgendwann infrage. Und das Kanzleramt? Schneider lächelt schief. Der Mann weiss, was er kann und was nicht. Er ist kein lodernder Europa-Visionär wie Martin Schulz und keine Rampensau wie Sigmar Gabriel. Aber er ist, anders als die zwei grossen Zampanos: noch da.
Schneiders Bundestagsreden sind bestenfalls solide. Mit den Alphatieren der parlamentarischen Debatte – Christian Lindner von der FDP oder Cem Özdemir von den Grünen – kann der Thüringer nicht mithalten. Auch in Talkshows macht er mitunter keine wirklich gute Figur. Kürzlich sass er dem Berliner AfD-Chef Georg Pazderski gegenüber. Der pensionierte Offizier ist ein moderater Nationalkonservativer, keiner der Schreihälse, von denen es in der Partei viele gibt. Schneider versuchte trotzdem, sein Gegenüber als Extremisten darzustellen, der von Schiessbefehlen an deutschen Grenzen träumt. Das ging auch deshalb in die Hose, weil der Sozialdemokrat es eigentlich besser weiss.
«Wenn, dann bitte kleinbürgerlich»
«Die AfD ist ein einziger Widerspruch», sagt er beim Gespräch in Gotha. Der nationalkonservative Flügel sei nur ein und zudem ein immer kleiner werdender Teil der Partei. Der andere Teil träume von einer nationalen Revolution, welche die «Systemparteien» wegspüle. Zusammengehalten werde das Ganze nur durch ein Thema, die Flüchtlingskrise. «Wenn wir die in den Griff bekommen, dann ist die AfD Geschichte», glaubt Schneider. Er jedenfalls wolle dafür sorgen, dass die SPD bald wieder den Regierungschef oder die Regierungschefin stellen kann. 30 Prozent Zustimmung seien bis 2021 machbar.
Schneider gehört in seiner Fraktion zum Seeheimer Kreis, dessen Mitglieder gerne als «konservative» Linke bezeichnet werden. Wo sieht er sich selbst? Schneider gibt die Frage zurück. Wie wäre es mit «bürgerlich» – wegen der Lehre zum Bankkaufmann, des soliden Familienlebens mit zwei Töchtern und des ganzen rundum seriösen Auftretens? Er schüttelt den Kopf: «Wenn, dann bitte kleinbürgerlich.»
Es gibt sehr wenige Menschen, die sich selbst so beschreiben würden. Kleinbürgerlich klingt nach Kacheltisch und Adiletten. Aber Schneider meint etwas anderes.
Lehre, Zivildienst, Abgeordneter
Die Eltern sind blutjung, als er zur Welt kommt, der Vater ist 17, die Mutter 19 Jahre alt. Sie bieten ihrem Sohn keine klassische Bildung, keinen Musikunterricht oder Tischgespräche über Literatur. Als er acht ist, zieht der Vater weg. Kurz nach der Wende geht die Mutter mit dem Stiefvater in den Westen. Der damals 14-Jährige entscheidet sich, in der Schule in Erfurt zu bleiben. Wer einmal ein Junge und 14 Jahre alt war, weiss, dass die Gefahr, zu verlottern, wohl zu keiner Zeit im Leben so gross ist wie in diesem hormonell überlasteten Alter.
Der junge Erfurter tut nichts dergleichen. Er macht sein Abitur, absolviert als Nächstes eine Lehre bei der Volksbank, dann den Zivildienst in der örtlichen Jugendherberge, schliesslich einen Kurzaufenthalt als Bankkaufmann bei der Sparkasse – ehe er 1998 als bis dato jüngster Abgeordneter der deutschen Geschichte ins Parlament einzieht. Ungeplant, wie er versichert. Mit 36,5 Prozent der Stimmen wählen ihn die Erfurter direkt in den Bundestag. Hauptverantwortlich dafür sei Gerhard Schröder gewesen, sagt er. Der hat damals einen bundesweiten Hype aus- und Helmut Kohl nach 16 Jahren als Kanzler abgelöst.
Carsten Schneider, dieses Kind von Kindern, dieses politische Boy-Wonder, hätte früh verblühen können, wie so viele junge Abgeordnete, die ausser der vermeintlichen Frische ihres Lebenslaufs wenig zu bieten haben. Der Sozialdemokrat ging stattdessen dorthin, wo die Macht zu Hause ist, also die Macht über das Geld. Er wurde Haushalts- und Finanzexperte. So konnte er unter anderem mit dafür sorgen, dass seine Heimatstadt ein Zwischenstopp auf der ICE-Schnellstrecke Berlin–München wurde. Das mag unspektakulär klingen, aber mit so einem Projekt bleibt man in der Erinnerung. Erfurt ist seither nationaler Verkehrsknotenpunkt.
Den Bürgermeister Kreuch machte der Abgeordnete Schneider auch glücklich, indem er den Haushaltsausschuss überzeugte, die Hälfte der Kosten für die Sanierung von Gothas Barockschloss Friedenstein zu übernehmen. Kreuch bestätigt das mit einem breiten Grinsen. Er habe den Carsten so lange genervt, bis der sich sein Schlösschen angeschaut habe. «Danach konnte er gar nicht mehr anders.» Während der Bürgermeister spricht, hält er dem Zuhörer ein Tablett mit Kuchen unter die Nase und gibt erst Frieden, als man ein Stück in den Mund steckt.
Er muss jetzt auch die Chefin managen
Lass andere gut dastehen: Diese alte Karriere-Regel beherrscht der Abgeordnete Schneider aus dem Effeff. Sein neuer Posten ist dafür wie gemacht. Fraktionschefs mögen im Rampenlicht stehen, aber parlamentarische Geschäftsführer sind die Strippenzieher des Betriebs. Sie bereiten die Sitzungen vor, koordinieren Gesetzesinitiativen und sorgen in den eigenen Reihen dafür, dass sich niemand blamiert. Ein Beispiel? Schneider will keine Namen nennen. Und hypothetisch? «Stellen Sie sich vor, ein neuer Abgeordneter kommt in den Finanzausschuss. Den frage ich dann unter vier Augen: Sag mal, was liest du eigentlich für Zeitungen? Wenn als Antwort dann nur das Lokalblatt kommt, dann sage ich, dass das nicht reicht. Und wenn er kein Englisch spricht, wird ihm ein Sprachkurs empfohlen.» Die SPD wolle schliesslich die politische Debatte prägen und einen ordentlichen Eindruck machen.
Den besten Eindruck will künftig eine Frau machen, Andrea Nahles. An diesem Sonntag soll die Fraktionsvorsitzende der SPD auch die neue Parteichefin werden. Mit einem tollen Wahlergebnis rechnet keiner. «75 Prozent plus x», tippt man in Berlin. Unter 70 Prozent wären eine Enttäuschung, unter 65 Prozent ein Fehlstart. Egal, wie es kommt, Schneider wird als rechte Hand keine Verantwortung tragen. Dafür arbeiten die zwei noch nicht lange genug zusammen. Aber alles, was nach Sonntag passiert, geht dann auch auf seine Kappe. Er wird nicht nur die Hinterbänkler managen müssen, sondern auch die Frau, die führen will.
Keine leichte Aufgabe. Wenn Andrea Nahles gute Laune hat, vergisst sie regelmässig, dass ihr der Souverän bei der Arbeit zuschaut. Dass sie im Bundestag einmal ein Pippi-Langstrumpf-Lied gesungen hat, kann keiner vergessen, der es gehört hat. Dass sie nach der Wahl im Spass damit gedroht hat, der Union «auf die Fresse» zu geben, auch nicht. Wenn Nahles klug ist, fragt sie künftig erst den Mann aus Erfurt: «Fändest du das auch so witzig wie ich, Carsten?»
Gewinnen ist möglich
Der Vorteil der SPD ist, dass es keine Erwartungen gibt, die die Partei in ihrem jetzigen Zustand enttäuschen könnte. Ganz anders als die Konkurrenz. Bei der CDU steht irgendwann ein Machtwechsel an, der viele unter dem Deckel gehaltene Konflikte zum Ausbruch bringen könnte. Bei der FDP wissen sie, abgesehen vom Digitalisierungsfimmel, immer noch nicht, was sie eigentlich wollen. Bei den Grünen träumt die Spitze allen Ernstes wieder davon, «die Welt» zu retten, und die AfD hat tatsächlich nur das eine Thema, das die Lager zusammenhält.
Dass die SPD noch immer gewinnen kann, hat sich am Sonntag in Gotha gezeigt. Da wurde Knut Kreuch im ersten Wahlgang als Oberbürgermeister wiedergewählt: mit 61,1 Prozent der Stimmen.
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