Der Bundestag muss trotz Euro-Schuldenkrise die Hoheit über die Haushaltspolitik in Deutschland zurückerobern
Seit dem Beginn der Bankenkrise im Jahr 2007 steht die Finanzpolitik im Zentrum der politischen Debatte. Der Ort dieser Debatte und der damit verbundenen Entscheidungen sollte der Deutsche Bundestag sein. Doch die Bevölkerung erlebt die politischen Repräsentanten als Getriebene – in Deutschland ebenso wie etwa in Griechenland oder in Italien, wo eine „Expertenregierung“ eingesetzt wurde. Die Anweisungen für Länder unter dem Rettungsschirm erarbeiten unbekannte Beamte von EU-Kommission, EZB und IWF. Die Europäische Zentralbank flutet den Bankenmarkt mit Milliarden, verschickt blaue Briefe an Regierungen und geht Risiken in Billionen-Höhe ein.
Mit welcher Legitimation treffen Technokraten eigentlich so wegweisende Entscheidungen? Und wieso finden die zentralen Diskussionen über Europas Zukunft in nächtlichen Sitzungen der Regierungen statt? Wen wundert es da, dass sich die Bürger von der Politik abwenden, die sie als ohnmächtig empfinden. Dem einzelnen Abgeordneten begegnen sie im Wahlkreis noch freundlich, aber sie bedauern ihn auch für die zu lösenden Probleme und seinen geringen Einfluss.
Nun soll mit dem Fiskalvertrag für Sicherheit und Ordnung gesorgt werden, indem alle Unterzeichnerstaaten nationale Schuldenbremsen einführen oder, wie in Deutschland, existierende Schuldenregeln anpassen. Doch so wie die Bundesregierung den Fiskalvertrag hierzulande implementieren will, erhielten erneut nicht gewählte Experten enormen Einfluss – auf Kosten der Parlamente. Nach vielen Dementis musste auch Finanzminister Wolfgang Schäuble eingestehen, dass es fraglich ist, ob die existierende deutsche Schuldenregel mit den Anforderungen des Fiskalpaktes vereinbar ist.
Die Einhaltung des Fiskalpakts soll von unabhängigen nationalen Überwachungsinstanzen überprüft werden, die hohe Anforderungen erfüllen müssen. Eine solche Form der Überwachung gibt es im Rahmen der deutschen Schuldenregel nicht. Deshalb konnte Schäuble die Vorschriften bisher dehnen und sich einen Überziehungskredit von rund 50 MilliardenEuro genehmigen – ein klarer Rechtsbruch. Bevor die Bundesregierung gegenüber anderen Euro-Staaten den Oberlehrer spielt, sollte sie ihre eigenen Hausaufgaben machen.
Um die Vorgaben des Fiskalpakts zu erfüllen, will die Bundesregierung den bestehenden „Stabilitätsrat der Finanzminister von Bund und Ländern“ zum Aufsichtsgremium über die nationale Fiskalpolitik befördern. Dabei fordert der Vertrag, dass das Überwachungsgremium unabhängig sein muss von den relevanten fiskalpolitischen Institutionen – und das sind die deutschen Finanzminister mitnichten. Sie sind zentrale Akteure! Dieses Manko versucht die Regierung zu kaschieren, indem sie zusätzlich einen Beirat aus Experten von Bundesbank und Wirtschaftsforschungsinstituten einsetzt. Überschreiten Bund oder Länder die vorgegebenen Verschuldungsgrenzen, sollen die Fachleute Politikempfehlungen aussprechen. Aber dieser Beirat wäre in keiner Weise legitimiert, weitreichende Ratschläge zu erteilen, die einen unmittelbaren Handlungsdruck auf die politisch verantwortlichen und demokratisch legitimierten Entscheidungsträger in Parlament und Regierung ausüben.
Statt eine Expertokratie aus Beamten und Wissenschaftlern einzurichten, muss die Gestaltung der Fiskalpolitik wieder dorthin zurück, wo sie hingehört: in die Hände des Haushaltsgesetzgebers. Nur die Parlamente sind demokratisch legitimiert, die zentralen Weichen für das Land zu stellen. Keine Frage: Politik braucht Beratung, auch unkonventionelle Ideen von außen. Aber zur Überwachung der Schuldenregel sollte es einen Schiedsrichter geben, der nicht gleichzeitig Mitspieler ist und der ein klares, aber begrenztes Mandat hat.
Deshalb schlage ich zwecks Umsetzung des Fiskalvertrages in Deutschland vor, einen Nationalen Rat für Haushalts- und Finanzpolitik einzurichten, der organisatorisch gemeinsam von Bundestag und Bundesrat getragen wird. Mit diesem Rat würde der Haushaltsgesetzgeber wieder in die Lage versetzt, die parlamentarische Kernaufgabe – das Budgetrecht – angemessen wahrzunehmen. Seit Ausbruch der Finanzkrise hat der Bundestag viel Macht an die Regierung abgegeben. In immer kürzeren Zeiträumen muss er Entscheidungen von großer Tragweite und mit erheblicher finanzieller Relevanz treffen. Erst vor wenigen Monaten bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungsprärogative des Parlaments auch in Krisenzeiten.
Doch der Bundestag verfügt häufig nicht über die notwendigen Ressourcen, um diese Entscheidungen in angemessener Weise vorzubereiten. Stets ist das Parlament auf Regierungsvorlagen angewiesen, oft ohne jede Chance, sie gründlich zu prüfen. Es fehlt an Zeit und an Personal. Beispiel Griechenland-Hilfen: Vor der Abstimmung über das zweite Rettungspaket legte das Finanzministerium die entscheidenden Unterlagen über die Schuldentragfähigkeit des Landes nicht nur viel zu spät vor. Sie waren obendrein auch noch unvollständig.
Der von mir vorgeschlagene Rat würde die Anforderungen des Fiskalvertrages erfüllen und könnte gleichzeitig dazu dienen, der Regierung die Festlegung der Parameter zu entziehen, welche die zulässige Nettokreditaufnahme bestimmen und die Schuldenregel somit gleichsam objektivieren. Außerdem wäre der Bundestag mit einem solchen Werkzeug besser in der Lage, die Kosten von Gesetzgebungsvorhaben oder Beschaffungen abzuschätzen und zu bewerten. Denn abgesehen von der Kontrolle des Bundesrechnungshofes bleiben sämtliche Zahlenangaben der Regierung bisher ungeprüft.
Viele andere Länder verfügen bereits über entsprechende parlamentarische Institutionen, zum Beispiel Schweden (Fiscal Policy Council), die Niederlande (Bureau for Economic Policy Analysis), Großbritannien (Office for Budget Responsibility) und natürlich die Vereinigten Staaten. Das dortige Congressional Budget Office ist die wohl stärkste Ausprägung des parlamentarischen Selbstbehauptungswillens weltweit. Ein solches parlamentarisches Beratungsgremium könnte die Aushöhlung der parlamentarischen Mitwirkungsrechte in den vergangenen Jahren teilweise revidieren und den Bundestag wieder in die Lage versetzen, seiner Kernaufgabe als (Haushalts-)Gesetzgeber gerecht zu werden. Das Parlament muss wieder selbstbewusster werden, sonst verkommt die Gewaltenteilung zu einer leeren Formel.
Namensbeitrag von Carsten Schneider, haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Vorsitzender der Landesgruppe Thüringen, erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 13. Juni 2012
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