Unter der Überschrift „Eis lecken und andere Reflexe“ zitiert Martin Debes in seinem „Zwischenruf“ einen Post, den ich nach dem Neonazi-Überfall auf die Maikundgebung in Weimar (die TA berichtete) im Netz veröffentlicht habe. Noch unter dem Eindruck der gerade erlebten Aggressivität und Gewaltbereitschaft fielen mir die zahlreichen, scheinbar „sorglosen“ Spaziergänger in der Altstadt auf, die das sonnige Wetter genossen. Vielleicht war ich sogar ein wenig neidisch. Gleichwohl erinnerte mich der Gegensatz doch sehr an die Zeit des „Biedermeier“ im 19. Jahrhundert, als sich weite Teile des Bürgertums bewusst aus der politischen Auseinandersetzung in das private Refugium zurückzogen.
Nun mag es sein, dass die Formulierung im Eifer des Gefechts zu pauschal und zugespitzt geraten ist. Mit entsprechendem Interpretationswillen kann man darin sogar, wie der Autor, „Wählerbeschimpfung“ erblicken. Das sollte einem echten „Biedermeierberufspolitiker“, wie mir Herr Debes gleichsam attestiert, keinesfalls passieren.
Wie auch immer, die Sorge um die demokratische Kultur im Land bleibt. Wenn sich immer mehr Menschen aus den öffentlichen Diskursen zurückziehen, gewinnen die Feinde der Demokratie durch Gewalt und martialisches Auftreten eine Deutungshoheit, die ihnen nicht zusteht. Um es klar zu sagen: Es geht mir dabei nicht um staatlich verordnetes Demonstrieren a la DDR und auch nicht primär um „links“ oder „rechts“, sondern in erster Linie um eine selbstbewusste und wache Bürgergesellschaft. Was passieren kann, wenn sie zu lange weg schaut, lässt sich gerade in Weimar gründlich studieren. Die Vorfälle am 1. Mai bestärken mich jedenfalls im Engagement für eine starke demokratische Öffentlichkeit, auch und insbesondere in der Auseinandersetzung mit den „Lehren aus Weimar“. Der noch junge Verein „Weimarer Republik e. V.“ bietet hierfür zum Beispiel eine ideale, parteiübergreifende Plattform.
Für Journalisten und Politiker gehören schnelle Pointen und provokante Thesen heute zum Tagesgeschäft und beide schießen dabei immer mal wieder über das Ziel hinaus. Es bleibt aber unabdingbar, dass die demokratische Mehrheit selbstbewusst bleibt und ihre Straßen und Plätze nicht den Ideologen von gestern und vorgestern überlässt. Denn eine offene Gesellschaft muss ihre Grundlagen am Ende immer selbst verteidigen.
Darin, lieber Martin Debes, sind wir uns sicher einig. Wir können das auch gerne bei einem Eis vertiefen! Ich lade Sie herzlich ein.
(c) Thüringer Allgemeine