Schwarz-Gelb hat die noch junge Schuldenregel im Grundgesetz bereits ausgehöhlt, bevor sie vollständig in Kraft tritt. Zudem ist der EU-Fiskalvertrag zu unverbindlich
von Carsten Schneider
Am heutigen Donnerstag unterschreibt die Bundeskanzlerin beim Europäischen Rat den sogenannten Fiskalvertrag. In diesem Vertrag verpflichten sich die unterzeichnenden EU-Mitgliedsstaaten, in ihre Verfassungen binnen zwei Jahren Schuldenregeln aufzunehmen.
In Deutschland lässt sich die Kanzlerin gern für diese harte europapolitische Konsolidierungspolitik feiern. Tatsächlich braucht sie den Vertrag vor allem auch als Pappkameraden zur Beruhigung ihrer Fraktion, um für die undurchsichtige Politik ihrer Regierung überhaupt noch Mehrheiten zu bekommen. Wie wir seit Montag wissen, klappt das dennoch nur bedingt.
Viele Abgeordnete der schwarzgelben Koalition haben mittlerweile erkannt, dass der Pappkamerad in Wirklichkeit ein zahnloser Tiger ist: Die darin enthaltenen neuen Pflichten haben bei Weitem nicht dieselbe Verbindlichkeit wie das europäische Gemeinschaftsrecht. Eine effektive Konsolidierungspolitik in der gesamten Euro-Zone lässt sich so kaum durchsetzen. Besonders frappierend: Während die Kanzlerin in Europa eifrig Wasser predigt, säuft sie zu Hause Wein. Die Regierung hat die noch junge Schuldenregel im Grundgesetz bereits ausgehöhlt, bevor sie vollständig in Kraft tritt.
Ab dem Jahr 2016 ist der Spielraum für die strukturelle Neuverschuldung des Bundes auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts begrenzt. Bis dahin ist im Grundgesetz ein Übergangszeitraum vorgesehen. Vom Jahr 2011 soll das strukturelle Defizit des Bundes in gleichmäßigen Schritten bis zu dieser neuen Obergrenze hin abgebaut werden. Der Ausgangspunkt für diesen Abbaupfad war 2010 festzustellen.
Durch eiskalte Trickserei haben Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble das strukturelle Defizit im Jahr 2010 auf rund 53 Mrd. Euro festgelegt, obwohl es bei korrekter Anwendung nur 32 Mrd. Euro betragen hätte. In der Folge entsteht ein steilerer Abbaupfad und in den ersten Jahren ein größerer Verschuldungsspielraum – dabei handelt es sich um die Jahre bis zum regulären Wahltermin 2013.
Allerdings: Aufgrund der guten konjunkturellen Lage konnte der Bundeshaushalt im vergangenen Jahr mit weniger neuen Schulden auskommen.
Die Differenz – also die nicht genutzten Verschuldungsspielräume bleibt der Regierungskoalition aber erhalten und wird ausgerechnet heute auf das Kontrollkonto der Schuldenbremse gebucht.
Dieses Kontrollkonto wird als Gedächtnis der Schuldenbremse bezeichnet. Dieser Vorgang, mit dem sich der Finanzminister einen großzügigen Dispo in Höhe von 25,5 Mrd. Euro einräumt, wird sich in den kommenden Jahren wiederholen. So laufen nach Berechnungen der Bundesbank bis 2016 zusätzliche Verschuldungsspielräume von insgesamt mindestens 50 Mrd. Euro auf. Diese Kriegskasse kann die Bundesregierung für ihren Haushaltsvollzug nutzen und vor der nächsten Wahl teure Klientelgeschenke und Steuersenkungen finanzieren.
Einen Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zur Korrektur dieser Verschuldungsspielräume, der inhaltlich auch vom Sachverständigenrat, der Bundesbank und dem Bundesrechnungshof unterstützt wurde, hat die schwarz-gelbe Mehrheit im letzten Jahr abgelehnt.
Die Bundeskanzlerin und ihre Koalition dehnen die Verfassung, um sich einen parteitaktischen Vorteil zu verschaffen. Dass sie damit nicht nur beim deutschen Steuerzahler, sondern auch in Europa Vertrauen zerstören, nimmt Schwarz-Gelb billigend hin.
Im Klartext: Wenn die Bundeskanzlerin heute ihre Unterschrift unter den neuen Fiskalvertrag setzt, hat sie bereits selbst dagegen verstoßen.
Carsten Schneider ist haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Der Artikel ist in der Financial Times Deutschland am 1. März 2012 erschienen.
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